Gipfel der Uneinigkeit
Koalitionäre finden beim Spitzentreffen zur Flüchtlingskrise keine Kompromisse
Es waren deutliche Worte, die SPD-Chef Sigmar Gabriel an seine Koalitionspartner von CDU und CSU richtete. Der Streit zwischen den beiden Unionsparteien über die Flüchtlingspolitik bedrohe «inzwischen die Handlungsfähigkeit der Regierung». Die «gegenseitige Erpressung und Beschimpfung» von CDU und CSU sei «unwürdig und schlicht verantwortungslos», so der Vize-Kanzler am Freitag gegenüber «Spiegel Online». Besonders scharf kritisierte Gabriel das Ultimatum, das Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) Kanzlerin Merkel zum Flüchtlingsgipfel am Sonntag gestellt hatte. Der bayerische Regierungschef hatte Merkel aufgefordert, für eine Begrenzung der Zuwanderung zu sorgen, andernfalls droht Bayern mit «Notwehrmaßnahmen». So könnte Bayern einen Aufnahmestopp verhängen oder Flüchtlinge ohne Absprache in andere Bundesländer verbringen. Angesichts dieser brisanten Gemengelage warnte Gabriel: «Je länger der Streit in der Union andauert, desto mehr Menschen werden sich von der Politik abwenden und desto mehr werden die Rechtsradikalen an Boden gewinnen».
Es kracht in der Koalition - an allen Ecken. Die Bruchlinien verlaufen dabei nicht nur zwischen den Parteien. Immer öfter stellen sich auch prominente CDU-Mitglieder gegen die «Wir schaffen das»-Politik der Kanzlerin. Präsidiumsmitglied Jens Spahn etwa sagte dem «Handelsblatt» am Freitag: «Es müssen Transitzonen geschaffen werden, mit denen Migranten an der Grenze zurückgewiesen werden können. Solche Transitzonen aber lehnt nicht nur die SPD ab. Auch die Kanzlerin hat starke Zweifel an dem Konzept.
Währenddessen sprang Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) seinem Amtsbruder Horst Seehofer bei und warb um Verständnis für die Attacken des CSU-Chefs auf seine Parteivorsitzende und Kanzlerin. Der bayerische Ministerpräsident nehme »für Deutschland eine Frontposition wahr, für die wir dankbar sein müssen«, so Haseloff und appellierte an seine Parteifreunde, nicht jedes Wort Seehofers auf die Goldwaage zulegen.
Auch bei der SPD nimmt die Nervosität zu. So kam dem SPD-Chef Gabriel am Sonnabend seine Generalsekretärin abhanden. Yasmin Fahimi gibt das Amt auf und wechselt als Staatssekretärin zu Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Das Verhältnis zwischen Fahimi und Gabriel galt als zerrüttet. Doch der Zeitpunkt überrascht: Hatte die ehemalige Gewerkschaftsfunktionärin doch vor drei Wochen betont, sie wolle weitermachen. Neben fachlichen und persönlichen Differenzen waren die beiden auch in der Flüchtlingspolitik nicht immer einer Meinung. Während sich der Parteichef im Januar mit Pegida-Anhängern in Dresden traf, erklärte seine Generalsekretärin, man solle jeden Dialog mit den »Islamkritikern« vermeiden. Über die Nachfolgerin Fahimis wird derzeit noch spekuliert.
Beinahe zur Nebensache geriet da am Sonntag der Flüchtlingsgipfel selbst, bei dem die Koalitionäre eindrucksvoll all jene bestätigten, die wie Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht glauben, dass Schwarz-Rot »erkennbar am Ende« ist. Auch wenn Regierungssprecher Steffen Seibert im Anschluss an das Treffen im Kanzleramt von einem »konstruktiven Gespräch« sprach und behauptete, es gebe »eine Vielzahl von inhaltlichen Gemeinsamkeiten und einige noch zu klärende beziehungsweise offene Punkte«. Fakt ist: In den zentralen Fragen scheint man von einem Kompromiss weit entfernt. Die von vielen in der Union präferierten Transitzonen an den Grenzen, wo Asylgesuche im Schnellverfahren geprüft werden sollen, um vermeintlich unberechtigte Antragsteller nicht einreisen zu lassen, sind in den Augen der SPD-Spitze »Haftanstalten«. Die Sozialdemokraten wollen stattdessen dezentrale »Einreisezentren«, die in Erstaufnahmeeinrichtungen und Wartezonen betrieben werden sollen, wie Gabriel am Sonnabend erläuterte. »Die Gewährung von Leistungen ist an diese Registrierung in Einreisezentren gebunden«. Wer sich verweigere, werde weniger Leistungen bekommen und Nachteile im Asylverfahren erleiden. Es gehe darum, so der SPD-Chef, wieder »stärker zu geregelten Verfahren zu kommen«.
Ebenfalls am Samstag kamen in Berlin die Unionsspitzen zusammen, um die Flüchtlingsproblematik »in sachlicher Atmosphäre« zu diskutieren. Das Treffen diente auch der Vorbereitung des Flüchtlingsgipfels vom Sonntag. Worauf sich die beteiligten Merkel und Seehofer sowie die Fraktionschefs von CDU und CSU einigten, wurde nicht bekannt. Nach fünf Stunden war die Sitzung vorbei. Damit dauerte das vorbereitende Treffen länger als der eigentliche Flüchtlingsgipfel am Sonntag. Ganze zwei Stunden hielt es Gabriel im Kanzleramt, dann verließ er wortlos die Runde. Merkel und Seehofer blieben am Tisch und verhandelten weiter. Wahrscheinlich auch über mögliche Obergrenzen für Flüchtlinge, wie sie der CSU-Chef fordert.
Für die Kanzlerin geht es munter weiter: Auf einem »kleinen Flüchtlingsgipfel« will sie mit den drei kommunalen Spitzenverbänden sowie mit Vertretern bayerischer Kommunen über die Lage beraten.
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