Wenigstens die Küche ist schon abbezahlt

Die wirtschaftlichen Probleme treffen nun auch den russischen Mittelstand

  • Elke Windisch, Moskau
  • Lesedauer: 6 Min.
Ölpreis, Wertpapiere, Rubel-Wechselkurs, EU-Sanktionen: Der Motor der russischen Volkswirtschaft stottert. Auswirkungen auf die Bevölkerung sind dramatisch.

Ihr Geld hat nur für Milch und Brot gereicht. Aber vor dem Käseregal im Supermarkt hat sie eine Attacke des Heißhungers überfallen. Da hat sie sich eine Packung in die Manteltasche gesteckt. An der Kasse haben sie sie natürlich geschnappt und die Polizei gerufen. Als sie auf der Wache vernommen werden sollte, fiel sie tot um. Vor Scham hat sie einen Herzschlag bekommen.

Irina Samsonowa geht die Geschichte der 81-jährigen Rentnerin aus dem Umland von St. Petersburg so nahe, als ob es die eigene Mutter wäre. Die Frau hatte die 900 Tage währende deutsche Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg überstanden, dies aber nicht mehr. Wütend zerknüllt Irina Samsonowa ihr Taschentuch, dann stellt sie den Nachrichtensender, in dem sie die Horror-Story gerade gehört hat, ab und auf Musik um.

Es ist kurz nach 19 Uhr Moskauer Zeit. Vor einer Stunde hat für die promovierte Altphilologin , die in einem Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeitet, der Feierabend begonnen. Es sei kein guter Tag gewesen, klagt sie. Gerüchte gehen um, dass die Akademie bei den Geisteswissenschaften flächendeckend Planstellen streichen wolle. Irina Samsonowa wird bald 55, russische Frauen können in diesem Alter in Rente gehen. Sie werde wohl gehen müssen, glaubt sie.

Dabei sollten die fünf Jahre, in denen Rentner noch voll arbeiten dürfen und dafür ein volles Gehalt beziehen, die schönsten ihres Lebens werden. »Ich wollte reisen, mir die Welt ansehen. Doch das hat sich nun wohl erledigt. Bloß gut, dass ich die hier schon abbezahlt habe.« Liebevoll fährt sie mit der Hand über die Hochglanzfront ihrer Traumküche: schwarz, rot, gebürsteter Edelstahl. Aus dem elektronisch gesteuerten Backrohr duftet es betörend nach Auflauf. Aufgeschlagen daneben liegt das, was Frau Doktor noch vor ein paar Monaten nur mit sehr spitzen Fingern angefasst hätte: eine Frauen-Illustrierte mit Klatsch und Krisen-Kochrezepten. »Manche sind wirklich gut. Man wird für wenig Geld richtig satt. Und man nimmt nicht zu dabei.« Irina, die ihren richtigen Namen nicht »in der Westpresse« gedruckt sehen möchte, ringt sich ein Lächeln ab. Das tut weh wie die Tränen über die beim Käse-Mausen erwischte Rentnerin.

Sie sind da, die harten Zeiten, vor denen das Führungspersonal die Russen schon im Herbst warnte. Die Ölpreise, Wertpapiere russischer Unternehmen und der Rubelwechselkurs begannen ihren Sinkflug. Am härtesten traf es den Mittelstand, zu dem sich auch Irina zählt. Menschen, die genug verdienten, um mit Freunden öfter mal ins Restaurant zu gehen, ins Konzert oder ins Bolschoi-Theater. Am Wochenende fuhr oder flog man auch mal nach St. Petersburg, weil dort gerade eine interessante Ausstellung eröffnet wurde.

Inzwischen pflegt man nicht nur bei Kultur und Klamottenkauf die Tugend der Bescheidenheit. Auch den Brotkorb muss sich Iwan Normalverbraucher höher hängen. Im Wortsinne. Die Preise für das wichtigste aller russischen Grundnahrungsmittel stiegen in den vergangenen sechs Wochen um 15 bis 20 Prozent. Sogar im Speisesaal der Duma, wo die Abgeordneten ihr Drei-Gänge-Mittagsmahl gegen einen eher symbolischen Obolus einnehmen, schlägt die Krise zu. Statt 20 Rubel (0,25 Euro) müsse er nun 53 Rubel - 0,63 Euro - für einen Teller Kascha (Graupengrütze) zahlen, greinte ein Volksvertreter vor laufendem Mikro eines Dudelfunk-Senders. Auch Kohlsuppe sei teurer geworden. Die auch für die Beköstigung des Parlaments zuständige Kreml-Administration blaffte umgehend zurück. Die Duma-Kantine sei keine »hermetisch abgeschlossene Glaskugel im Ausland«, in der man »die Veränderungen auf dem Markt« einfach aussitzen könne.

Veränderungen? Die Medien sprechen eher von Verwerfungen. Denn die Ölpreise haben sich in den vergangenen sechs Monaten halbiert. Und der Dollar kostet statt 30 mittlerweile um 70 Rubel. Das schlägt auch auf die Lebensmittelpreise durch. Selbst das, was auf den Fluren von Mutter Heimat wächst, kostet inzwischen oft das Doppelte. Wegen der importierten Zuschlagstoffe. Russland, mahnte Kreml-Chef Wladimir Putin, als er im Dezember seine Jahresbotschaft an das Parlament verkündete, müsse lernen, mit den neuen Realitäten zu leben und die Krise als Chance für verschleppte Strukturreformen - weg von Rohstoffexporten, hin zu einer leistungsfähigen verarbeitenden Industrie - begreifen. Dann werde es in zwei Jahren wieder aufwärts gehen.

Doch seinen Prognosen vertraut der Markt so wenig wie dem Antikrisenplan der Regierung. Obwohl Finanzminister Anton Siluanow sogar gegen die Auslandspropaganda, die der Welt ein besseres Russland-Bild vermitteln soll, das Messer zückt. Mit einem deutschsprachigen Ableger werde es wohl nichts, fürchtet Margarita Simonjan, die Chefin von Russia Today, dem russischen Auslandsfernsehen. Bisher reichte es lediglich zum Internet-Kanal »RT Deutsch«.

Nur bei Verteidigung und Sozialleistungen sollen keine Abstriche gemacht werden. Die Renten wurden daher pünktlich zum ersten Februar der Inflation angepasst. Sie lag im vergangenen Jahr bei über 16 Prozent. Weniger als die Hälfte war geplant. Doch bang fragen sich die Menschen, wie lange Kreml und Regierung noch zu ihrem Wort stehen können. Der Geldsack ist derzeit erstaunlich prall gefüllt. Denn Russlands Haushalt finanziert sich zu knapp 50 Prozent aus Abgaben der Energiekonzerne. Die indes werden in Rubel fällig. Und je schlechter dessen Wechselkurs zum US-Dollar, der internationalen Clearing-Währung für Öl und Gas, desto höher die realen Einnahmen der Steuerbehörde.

Dadurch, so Dmitri Kisseljow, der im Staatsfernsehen den politischen Wochenrückblick moderiert, würden sogar die sinkenden Erlöse aus Energieexporten ausgeglichen. Kritische Ökonomen fühlten sich an ein Perpetuum mobile erinnert: ein Auto, das nach einmaliger Energiezufuhr aus seinen Abgasen immer wieder neuen Treibstoff produziert. Doch der Praxistest scheiterte bislang stets an den ehernen Gesetzen der Physik. Der Motor stottert noch mal kurz und gibt dann den Geist auf.

Auch der Motor der russischen Volkswirtschaft stottert: Der Treibstoff als Kapital wird immer knapper. Sogar in einstigen Boom-Branchen suchen Investoren in hellen Scharen das Weite. Im April schließt der Bierkonzern Baltika, in Russland Marktführer und zu 100 Prozent im Besitz eines dänischen Brauers. Die zehn Werke sind miserabel ausgelastet. Sogar im Stammwerk in St. Peterburg stehen die Bänder häufig still. Hunderte Jobs sind bedroht, in der Autoindustrie geht es um Tausende Arbeitsplätze. Wegen dramatisch gesunkener Nachfrage wollen die Konzerne ganze Belegschaften auf Kurzarbeit setzen. General Motors drosselte die Produktionen in den Opel-Werken bei St. Petersburg bereits um 20 Prozent und denkt inzwischen sogar über einen kompletten Rückzug vom russischen Markt nach. Dafür macht der Konzern trübe Prognosen und allgemeine politische Risiken verantwortlich. Immerhin stufte die Rating-Agentur Standard & Poors Russland kürzlich auf Ramschniveau runter und die EU verlängerte ihre Sanktionen.

Zwar hat Putins Ex-Wirtschaftsguru Andrei Illarionow Recht, wenn er behauptet, der Westen überschätze die Wirkung seines Embargos. Laut Umfragen sind die Massen bereit, für Russlands Großmachtstatus kurzzeitig sogar Abstriche am eigenen Lebensstandard hinzunehmen. Doch die Loyalität beginnt trotz nach wie vor hoher Zustimmungsraten für Putin bereits zu bröckeln.

Vor allem beim Mittelstand, dem harten Kern der Protestbewegung nach den umstrittenen Parlamentswahlen 2011. Auch Putins Freundeskreis soll von mehreren Dutzend Vertrauten auf eine Handvoll Hardliner aus dem Dunstkreis der Geheimdienste geschrumpft sein. So jedenfalls berichtet es ein Mitglied des illustren Zirkels, der kürzlich bei der Wirtschaftsagentur Bloomberg aus dem Nähkästchen plauderte.

Noch mehr alarmiert Soziologen, dass auch Besitzer angesagter Moskauer Klubs ihre Lokalitäten verkaufen. Oft unter Marktwert und dennoch froh, einen Interessenten gefunden zu haben. Der Kundschaft, so der Moderator eines Szene-FM-Senders, sei nicht nur das Geld ausgegangen. Die Party-Stimmung sei vorbei. Auch nach dem Ende der Krise werde nichts mehr so sein wie früher.

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