Der Weise und seine Struktur

sieben tage, sieben nächte

Ende der 1980er Jahre veröffentlichte der Germanist Uwe Pörksen ein schmales Buch, in dem er sich mit einer Gruppe von Wörtern beschäftigte, deren Aufstieg er bemerkenswert fand: Plastikwörter, nannte Pörksen sie, die »allgegenwärtigen Substantive der neuen Welt«. Entwicklung ist eines von ihnen, Struktur, Programm, Technologie, Strategie, System, Prozess oder Information. Laut Pörksen sind diese Begriffe zwar inhaltsarm, ihre Bedeutung ist diffus, gleichzeitig aber strahlen sie Autorität aus, Objektivität und Rationalität. Zudem lassen sie sich unendlich kombinieren zu strukturellen Entwicklungen, zu technologischen Strukturprozessen oder zu strategischen Technologiesystemen.

Dieser Tage hat Deutschlands wichtigster Wirtschaftsberater - Lars Feld, Chef der »Wirtschaftsweisen« - in einem Fernsehinterview einmal mehr vorgeführt, was Plastikwörter vermögen. In dem Interview ging es um die nun beschlossene Verlängerung des Kurzarbeitergeldes - Unternehmen können jetzt länger diese Lohnsubvention erhalten. Das findet Feld bedenklich. Zwar hängen derzeit immerhin etwa 5,6 Millionen Menschen am Kurzarbeitergeld. Dennoch verwies der Wirtschaftsweise auf die Gefahr, dass über diese Subvention Unternehmen am Leben erhalten werden, die »eigentlich vom Markt verschwinden müssten«, weil sie nicht profitabel sind.

Was der Sachverständige hier ausdrückte, war im Kern die Härte, dass in der hiesigen Wirtschaftsweise alles dem Profit untergeordnet ist: Was der Rendite nicht dient, was die Unternehmen und ihre Eigentümer nicht reicher macht, das muss verschwinden und damit auch die dazugehörigen Arbeitsplätze. Waren, Jobs, Fabriken, die keinen Geldüberschuss bringen, sind ohne Existenzrecht.

So hat es der Wirtschaftsweise aber nicht gesagt. Stattdessen sprach er von »Strukturen«. Die verlängerte Lohnsubvention »hält den Strukturwandel auf«, kritisierte Feld, auch innerhalb von Unternehmen »behindert« das Kurzarbeitergeld die »Umstrukturierung«, und diese »Verzögerung der Strukturveränderungen« sei sehr »ungünstig«. Auf die Frage des Interviewers, ob die aktuelle Krisenlage denn der richtige Zeitpunkt sei, den »Strukturwandel durchzuboxen« antwortete Feld, dass es darum gehe, keine neuen »Hemmnisse einzuführen«, und zwar sowohl was den »Strukturwandel im Großen, wie die Digitalisierung« angeht wie auch »den Strukturwandel im kleinen«, also den Untergang unprofitabler Firmen.

Das unscheinbare Wort »Struktur« erlaubt es dem Sprecher, den Profit mit all seinen Zwängen als selbstverständliche, quasi sachgesetzliche Eigenschaft des Wirtschaftens auszugeben, die gar nicht mehr eigens genannt werden muss und so aller Kritik entzogen ist. Plastikwörter, so Pörksen, sind »Welterklärungen«. Stephan Kaufmann

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