Fünf Meilen unter der Oberfläche
Vor 200 Jahren wurde der Gigant der US-amerikanischen Literatur geboren: Herman Melville
Der Übergang zur Moderne, zum Kapitalismus verlief in den USA nicht weniger grausam als irgendwo sonst. Man denke nur an die Verwerfungen, die der Bau der Eisenbahn mit sich brachte, oder an die Ausrottung der Ureinwohner. Gerade aus Sicht ihrer großen Schriftsteller verdrängte in den USA das Neue auf brutale Weise ein Altes, das in albtraumhaften Zeichen wiederkehrte. So verhält es sich bei Nathaniel Hawthorne, so verhält es sich auch bei Edgar Allan Poe. Bei Herman Melville taucht das Alte immer wieder wie ein weißer Wal dicht vorm Bug auf.
Das Alte sind alle von Moderne und Kapitalismus noch nicht gezähmten Energien, die Gewalten der Natur ebenso wie magische Praktiken, die Leiden und die Wut der Arbeiter ebenso wie Vorstellungen von einem primitiven Kommunismus der Südsee. Melville, der nach dem Tod seines bankrotten Vaters schon als Zwölfjähriger zur Arbeit gezwungen war, hatte die Umwälzung auf die denkbar härteste Weise erfahren: als Seemann auf einem Walfangschiff.
Die USA stiegen gerade zur führenden Seefahrernation auf, auf den Walfängern zeigte sich die Industrialisierung und Proletarisierung auf krasse Weise. Der Melville-Kenner Howard Bruce Franklin schreibt: »Die Besatzung der Walschiffe bestand aus den hoffnungslosesten Männern, rekrutiert aus dem Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft und aus den Vertriebenen der Welt.« Melville sah Versklavung, Misshandlung, Tod, er sah aber auch - und das unterscheidet ihn von Hawthorne oder Poe - die Solidarität der Außenseiter, der Wilden untereinander und die Erhabenheit des Kampfs mit der Natur und den Ausbeutern. Er sah, was die Profiteure am Teetisch niemals sahen. Das Alte war für ihn eine mörderische Tiefe, in die sie nicht vordringen.
Er liebe alle Menschen, die tauchen, schrieb Melville an Evert A. Duyckinck. »Jeder Mensch vermag nahe der Oberfläche zu schwimmen, aber es verlangt einen großen Wal, um fünf oder mehr Meilen hinabzusteigen.« Die Brüder Evert und George Duyckinck von der »Jung-Amerika«-Gruppe, neben Hawthorne lange Zeit Melvilles engste Freunde, Verleger mancher seiner Bücher und seine Unterstützer in vielen Dingen, waren wohl die Letzten, die dieses Gleichnis hätten begreifen können. Sie waren gewissermaßen moderner als der Schriftsteller, das heißt sachlicher, pragmatischer, nüchterner, maßvoller. Die frühen Seefahrerromane ihres Freundes, »Taipi« (1846) und »Omu« (1847), hatten sie, wie die Mehrheit von Kritik und Publikum, geliebt, an »Mardi« (1849), Melvilles erstem Versuch, ein »großes Buch« zu schreiben, kritisiert, was er selbst dessen »metaphysische Ingredienzien« nannte, sodann seine Rückkehr ins Seefahrergenre - »Redburn« und »Weißjacke« (beide 1849) - begrüßt. »Moby-Dick« (1851) aber musste sie, wie den Rest der Leserschaft noch bis ins 20. Jahrhundert, vor arge Probleme stellen.
Die kundige Einführung in die Pottwal-Jagd habe ihm gefallen, schrieb einer der Duyckincks (vermutlich Evert) in einer anonymen Rezension, aber der Kapitän Ahab komme ihm nicht realistisch, mehr wie ein »Faust vom Quarterdeck« vor, alldieweil der polynesische Harpunier Queequeg und der Rest der Besatzung ihre Walpurgisnacht feierten. Der Mittel- und Kernteil des Buches, »halb Essay, halb Rhapsodie«, erscheine ihm recht »deplatziert und unbequem«. Außerdem sei Ishmael, der fiktive Erzähler des Romans, viel zu unbeständig, »wie eine Flamme im Wirbelwind«. Und das war noch eine um Freundlichkeit bemühte Besprechung. In seinem großen Melville-Porträt zeigt Uwe Nettelbeck (»Die Republik«) auf, wie die Presse über den Schriftsteller herfiel, ja, ihn für »verrückt« erklärte. Dieses grobe Verkennen setzt sich nahtlos in »Kindlers Literaturlexikon« oder »Wikipedia« und, wie Nettelbeck schreibt, im »schlecht bezahlten Unfug« der Übersetzer fort. Was ist aber so schwierig an »Moby-Dick«? Wir kennen doch alle die Verfilmung mit Gregory Peck, und die ging runter wie achtjähriger Whiskey.
Schwierig macht das Buch, dass es, wie es in Duyckincks Besprechung schon anklingt, viele Bücher ist, es ist Bericht, Zitatmontage, Reflexion, Gedicht, Tragödie, Satire, biblische Meditation - alles in einem, und zwar meisterlich gefügt, aber, wie Melville schreibt, in einer »sorgfältigen Unordnung«, die für den eiligen Leser kaum zu entwirren ist. Und Mal um Mal taucht schockierend das Alte auf: Mitten in einer Beschreibung der halb-industriellen Verarbeitung von Walfleisch an Bord, nämlich des Einkochens von Fett oder »Blubber« zu Tran, heißt es, das Schiff, die »Pequod«, eile dahin, »beladen mit Wilden und mit Feuer und einen Leichnam verbrennend und in diese Schwärze der Dunkelheit eintauchend«. Das ist ein starkes Bild, aber gewiss keines von der Sorte, die nüchterne, aufgeklärte Leute wie die Duyckincks erfreut.
Als unzeitgemäß galt Melville also nicht in dem Sinn, dass er künstlerisch nichts gewagt hätte. Erkennbar ist gerade das Gegenteil der Fall. Als unzeitgemäß galt er, weil er den Ton der Geschäftigkeit, der gefälligen Unterhaltung, des biederen Lebens sowie aller sittlichen Übereinkünfte verletzte und Autoritäten (Ahab voran) gern in das ihnen gebührende trübe Licht rückte. Meuterei, Arbeitsverweigerung kehrt als Motiv von seinen ersten Romanen über die Erzählung von »Bartleby, dem Schreiber« (1853) bis zu der von »Billy Budd« (1891) immer wieder. Dass er mit Heiden sympathisiert, ja Ishmael und Queequeg zu siamesischen Zwillingen stilisiert hat, war lästerlich. Angesichts von »Pierre« (1852) ließen die Duyckincks ihrem Groll freien Lauf und nannten den Roman einen »Auswuchs der Fantasie« und unmoralisch.
Mit den Duyckincks hat sich Melville zwar wieder versöhnt, aber ihr Urteil war peinlicherweise das der zeitgenössischen Leser insgesamt. Von »Moby Dick« an sollte er keine kommerziellen Erfolge mehr erzielen. Er erfüllte sich aber noch einige Male seinen »Wunsch, die Art von Büchern zu schreiben, die man als ›Fehlschlag‹ bezeichnet«. Sein letzter Fehlschlag im Genre Roman ist »Maskeraden« (1857), danach gab er zwar nicht das Schreiben, aber die Schriftstellerei als Lebenserwerb auf. Der Originaltitel »The Confidence-Man« bezeichnet einen Schwindler, wörtlich einen »Mann des Vertrauens«, und um Vertrauen geht es hier. Die mehrfach abgewandelte Kernszene verläuft ungefähr so: »Vertrauen Sie mir?« - »Aber ich kenne Sie doch gar nicht. Na gut, Sie sehen harmlos aus, ich vertraue Ihnen.« - »Danke, dann geben Sie mir 100 Dollar.« - »Wie bitte?« - »Aber Sie sagten doch, Sie vertrauen mir.« Dieses feine, böse Hauptwerk der Moderne analysiert, was mit dem Vertrauen geschieht, wenn aus menschlichen Börsen-Transaktionen werden. Es könnte, so der Romancier Philip Roth mit einer Anspielung auf Donald Trumps Bestseller, auch »Die Kunst des Schwindels« heißen. Unter anderem wird darin Evert Duyckinck als »Krämer vom Lande« karikiert.
Mag Melville der Moderne mal einen bösen, mal einen spöttischen Blick zugeworfen haben, seine Form war moderner als die der Modernen seiner Zeit. Das zeigt sich an der Figur des »Confidence-Man« selbst, der keine »Flamme im Wirbelwind« mehr ist, sondern »gleich Schatten an der Wand über die Seiten huscht«, wie es an einer Stelle heißt. Fiktion, heißt es an einer anderen Stelle, sei wie Religion: »Sie sollte eine andere Welt geben, doch eine, zu der wir eine Bindung spüren.« In den reifen Büchern Herman Melvilles reißen alle alten Bindungen, gerade so, wie die Moderne alles Alte freirüttelt, losreißt und abflacht. Er ist modern in seiner Darstellung dieses Dramas, er ist antimodern in dessen Einschätzung. Er ist gleichzeitig zu früh und zu spät dran, das war der Verdruss seines Lebens und ist das Glück seiner Leser.
Von Herman Melville:
Mardi und eine Reise dorthin. Manesse-Verlag, 813 S., geb., 45 €;
Moby-Dick oder der Wal. dtv, 1048 S., br., 12,90 €;
Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen. Sammlung Dieterich 1991, 458 S., geb., antiquarisch.
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