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Kindheit - »eine Fabrik von Lügen«
Elena Ferrante erzählt auf spannungsvolle Weise von einer zutiefst verunsicherten Frau
Manchem mochte es so scheinen, als habe sich Elena Ferrante ihr Pseudonym speziell für ihre »Neapolitanische Saga« ausgedacht, weil sie als Person nicht erkannt werden wollte. Die vier Bände sind zu Bestsellern geworden, unterstützt von einem Mediengewese um ihre Identität, wie es die Autorin gerade nicht wollte. Zwar wurde mitunter erwähnt, dass es bei Fischer, List und DVA schon früher Werke von ihr gegeben hatte - übrigens auch unter dem Namen Ferrante, wie man sieht -, doch waren diese gleichsam »abgestempelt« durch die Tatsache, dass die Flut der Neuerscheinungen über sie hinweggegangen war.
Jetzt zeigt sich wieder einmal: Ein Buch kann noch so gut sein. Wenn ihm das Marketing fehlt, hat es auf dem überfüllten Buchmarkt kaum Chancen. Der neuen Übersetzung von Ferrantes erstem Roman »L’amore molesto« (1992) durch Karin Krieger wird es besser gehen, weil sie schon an den Erfolg der »Neapolitanischen Saga« anknüpfen kann.
Wieder, genauer gesagt, damals schon dieser Handlungsort: Neapel, grell und schmutzig, laut und voller erschreckender Geheimnisse. Wer sich erinnert, wie Elena und Lila im ersten Band der Tetralogie ihre Puppen in einen Keller warfen und angstvoll zur Tür eines Mannes schlichen, der für sie ein Unhold war, findet am Ende des vorliegenden Romans wieder so einen Keller, in dem eine Tochter schaudernd auf einem Kleiderbügel das Kostüm ihrer Mutter erblickt.
»Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento …« So beginnt der Roman - eine Ich-Erzählung, die ihre Spannung daraus bezieht, dass sie Enthüllungen verspricht. Delia kommt zur Beerdigung der Mutter nach Neapel zurück, in eine Stadt, die eher ungute Erinnerungen in ihr weckt. Natürlich will sie wissen, was mit der Mutter geschehen ist, die sie als Kind offenbar abgöttisch liebte, nach der sie sich sehnte und die sie zugleich hasste, weil sie ihr immer wieder fern blieb. Kurz vor ihrem Tod - Unfall, Mord, Selbstmord? - hatte sie mehrere rätselhafte Anrufe von ihr bekommen. »Geh schlafen. Ich nehme jetzt ein Bad.« Das waren ihre letzten Worte gewesen.
Und während uns die Autorin durch eine Kette mysteriöser Vorkommnisse immer tiefer in eine Atmosphäre des Rätselhafen führt, geschieht bei der Ich-Erzählerin Gegenteiliges: Langsam lichtet sich der Nebel über ihrem Gemüt, bis er zuletzt aufreißt und eine erschreckende Wahrheit bloßlegt. Etwas, was das Kind nicht verkraften konnte. »Die Kindheit ist eine Fabrik von Lügen, die in der Vergangenheitsform fortdauern, zumindest meine ist so gewesen«, heißt es auf Seite 190, als Delia aus jenem Keller kommt, wo nicht das geschah, was sie geglaubt hatte, sondern etwas völlig anderes. Aber um das zu begreifen, musste sie glitschige Stufen hinuntergehen.
Man denkt an den Prozess der Psychoanalyse, kann dabei aber nicht distanziert bleiben. Das letztlich Spielerische von Spannungsliteratur verwandelt sich hier immer wieder in bittersten Ernst, wenn man sich vergegenwärtigt, was Mutter und Tochter - auf jeweils ganz verschiedene Weise - widerfahren ist.
Was man erlebt, ist die Normalität von Gewalt gegen Frauen. Die geht von Männern aus, die selber armselig sind in ihrer Angst, allein zu sein, die einem Status genügen wollen, für den sie die Statur nicht haben. Jeder von ihnen - Delias Vater, sein ehemaliger Freund Caserta, dessen Vater und dessen Sohn Antonio, der damals in Delias Alter war, und Delias Onkel Filippo - jeder von ihnen bewegt sich in einer Rolle, die Übergriffiges nicht bloß erlaubt, sondern fast schon erfordert. Sie sind Rivalen, sozusagen naturgemäß, und paktieren doch insgeheim miteinander. Das trifft umso stärker, weil Elena Ferrante ohne Empörung davon erzählt. Es war schlicht die Realität ihrer Jahre in Neapel.
»Ich werde dieses Drecksloch verlassen«, beschließt Elena, die in der »Neapolitanischen Saga« zur Schriftstellerin wird. Wir erlebten ihren Kampf um Selbstvertrauen, genährt durch Ehrgeiz und Leistungswillen. Aber was Elena auch gelingt, es lässt sie nicht los: dieses Gefühl der Unzulänglichkeit, das für Delia noch viel belastender ist. Hässlich fühlt sie sich und schwach, schlimmer noch als ihre anpassungsfähige Mutter. Die war ihr selbst im Tode überlegen, zumal sie ihr etwas zu verzeihen hatte ...
Elenas Roman wird vom Lektor gelobt, der auf jeder Seite »etwas Kraftvolles« entdeckt. »Ehrlichkeit, Natürlichkeit und etwas Geheimnisvolles im Stil« - das lässt sich auch über Elena Ferrantes erstes Buch sagen.
Erst kürzlich habe ich in einem Gespräch bekundet, dass ich keine Feministin sei, weil ich das nicht nötig hätte. Ich bin in Verhältnissen aufgewachsen, in denen weibliche Gleichberechtigung Gesetz war, und ich hatte eine Mutter, die tatkräftig war und stark, die Liebe gab und Liebe besaß, die mir den Rücken stärkte. Die Lektüre dieses Romans führt eine männerdominierte Welt vor Augen, Machtverhältnisse, die es vielerorts auf die selbstverständlichste Weise gibt. Frauen, die sich aus Erfahrung dagegen wehren, sollte man sich zur Seite stellen.
Elena Ferrante: Lästige Liebe. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, 206 S., geb., 22 €.
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