Die Welt klein schlagen
Ein wilder kanarischer Ritt: »Achipel« von Inger-Maria Mahlke
Da ist dieser glühende Faschist. Als Lorenzo 1936 nach dem Wahlsieg der linken Volksfront in Spanien heimkehrt, fragt ihn seine Frau, was er eigentlich wolle? »Die Welt klein schlagen und neu zusammenbauen«, lautet die Antwort von Lorenzo, der sich dann in den 50er-Jahren damit begnügen muss, dass seine Tochter dem Sieger im Bürgerkrieg, dem »Generalissimo« Franco einen Blumenstrauß überreichen darf, als der Diktator unter frenetischem Jubel am Hafen von Santa Cruz de Tenerife empfangen wird.
Jahrzehnte später lungert Lorenzos Urenkelin Rosa bei ihren Eltern herum. Sie war zum Studium der Kunstgeschichte nach Madrid gezogen, um dann doch gescheitert in den Schoß der wohlhabenden Familie zurückzukehren. Ständig bemüht, sich die Welt per Instagram und Co. auf verdaulicher Distanz zu halten.
Diesen und weiteren 15 wunderbar widersprüchlichen Charakteren haucht Inger-Maria Mahlke in ihrem neuen Roman »Archipel« Leben ein. Eindringlich zeigt sie, wie eng die eigene Familiengeschichte mit dem historischen Erbe eines ganzen Landes verbunden ist, wie der Einzelne in seiner Privatheit doch auch immer teil einer zeitgeschichtlichen Erzählung ist. Anhand markanter historischer und individueller Ereignisse zeichnet Mahlke eine Landkarte der kanarischen Geschichte in der Peripherie des Franco-Regimes im 20. Jahrhundert.
Beginnend in der Jetzt-Zeit, bahnt sich der Leser rückwärts seinen Weg durch die verworrene Geschichte Teneriffas rund um die vielen Persönlichkeiten der Familien Bernadotte und Baute. Während der Fokus immer auf den persönlichen Schicksalen liegt, zieht gleichzeitig die bewegte Geschichte Spaniens seit dem Aufstieg des Faschismus vorüber: »Soldaten sind khaki, verwaschen blau die Falange, die Polizisten grau. Guardia Civil graugrün, die Armen staubfarben, die Pfarrer schwarz, Seminaristen chorhemdweiß, violett ist der Bischof. Rot ist niemand mehr.«
Bemerkenswert ist, dass der Roman neben der privilegierten Familie Bernadotte auch dem Lebensweg ihrer Hausangestellten Merche Pérez und ihrer beiden Töchter Eulalia und Mercedes durch das Jahrhundert folgt. Man hätte sich gewünscht, ein bisschen länger bei den Personen verweilen zu dürfen, ein bisschen mehr über ihre komplex und kryptisch gezeichneten Charaktere zu erfahren. Je mehr man liest, desto mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und reißt einen jäh aus der Zeit, um einen direkt wieder mit sprachlicher Wucht in ein neues Szenario zu schleudern. Das ist einerseits ein wilder Ritt, der Spaß macht, geprägt von kreativer Unberechenbarkeit und dem schriftstellerischen Mut, die Dinge nicht so kleinschrittig auszuerzählen, bis sie sämtlichen Esprit verloren haben. Andererseits laufen die vielen kleinen Geschichten so auch Gefahr, dem groß angelegten Erzählbogen zum Opfer zu fallen.
Stilistisch überzeugt Mahlke, die bereits mit ihrem Vorgängerroman »Wie ihr wollt« (2015) auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, auch in ihrem neuen Werk mit einem rauen Charme: Der sparsame Gebrauch von Verben und eine harte, direkte Sprache verleihen dem Plot eine besondere, unmittelbare Dynamik. Auf diese Weise gelingt es ihr, das fragile Konstrukt der Realität zwischen Gesagtem und Nicht-Gesagtem, zwischen Lebenssinn und Lebenslüge der porträtierten Charaktere beklemmend spürbar zu machen.
Inger-Maria Mahlke: Archipel, Rowohlt, 432 S., 20 €.
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