Lieutenant Murray (Tocumwal, 1944)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 2 Min.

Recreation Facility - welch großspurige Bezeichnung für eine karge Baracke mit roh gezimmerten Regalen und einem Holztisch mit harten Stühlen. Tür und Fenster gaben die Sicht frei auf den Appellplatz in Tocumwal, Australien, wo unser Kompanie allmorgendlich anzutreten hatte, um zur Arbeit eingeteilt zu werden.

Hochgestochen wie die Bezeichnung Recreation Facility klang auch dieses Education Officer, das unser Kommandant Lieutenant Murray mir, dem Soldaten mit der Nummer V377561, zugedacht hatte. Ich sollte Leihbücher einordnen, Schachbretter und die dazu gehörenden Figuren verwalten, auch Dartspiele und Spielkarten; dazu die Baracke sauber halten, den Boden wischen, das Fenster putzen: Education Officer - ein Hohn! Zumal auch ich allmorgendlich zum Eisenbahnknotenpunkt auszurücken hatte und wie alle anderen auf den Güterzügen schuften musste. Es war kein Privileg, dass ich mich vorzeitig auf den Rückweg zum Lager machen durfte, um in der Recreation Facility weitere fünf Stunden Dienst zu tun.

Wobei mir, das sei zugegeben, viel Zeit zum Lesen blieb. Es war gute Literatur, die uns die Quäker für die Bibliothek gespendet hatten: von Dickens bis Thackeray, von Jane Austen bis zu den Brontè Schwestern und jede Menge englische und australische Gegenwartsliteratur. Dazu kam was unsere Armeeverwaltung von der US-amerikanischen übernehmen durfte: Dreiser, Hemingway, Steinbeck Taschenbücher und - ich staunte! - »The Seventh Cross« von Anna Seghers. Lange ehe ich das Buch auf Deutsch zu lesen bekam, las ich es in der englischen Übersetzung.

Und Lieutenant Murray gleich mit. Der war eines Nachmittags, als im Lager noch Stille herrschte, in die Baracke gekommen: »Everything O.K. Private?« »Yes, Sir!« Was ich da gerade lese, wollte er wissen. Ich sagte ihm, fünf Exemplare von »The Seventh Cross« seien eingetroffen und beschrieb ihm den Inhalt. »Sounds interesting« sagte er und lieh sich den Roman aus. Ich schrieb seinen Namen in die Kladde - was sich als überflüssig erwies, denn schon am nächsten Tag gab er das Buch zurück. Sich die Augen reibend, sagte er: »Couldn’t put the damn book down.« Ob noch anderes »by this German woman« zu haben sei? Ich musste passen. »Private Kofmen«, sagte er, »search around. That’s an order!« »Yes, Sir«, sagte ich und begann nachzuforschen. Doch kein weiteres Buch der Anna Seghers war aufzutreiben - schon gar nicht in der Einöde von Tocumwal.

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