Stalking im Kaiserreich

Wie die Berliner Schriftstellerin Anna Julia Wolff einen Personenkult um ihren Kollegen Hermann Sudermann pflegte

  • Bettina Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

»Sie haben betont, meine Liebe zu Ihnen wäre eine Angelegenheit, die ich mit meinen vier Wänden allein abzumachen hätte […]«, schreibt Anna Julia Wolff am 11. August 1909 an Hermann Sudermann. Es ist eine hoffnungslose Liebe. Sudermann wehrt ab, jedoch nicht konsequent genug. Die Schriftstellerin überschüttet ihn mit einer übersteigerten Verehrung, die den kranken Sudermann überfordert. Geschmeichelt fühlt er sich am Anfang dennoch. Lange ist es her, dass er sich von der Damenwelt umschwärmt in der Gesellschaft bewegt hat. Anna Julia Wolff verfolgt ihn drei Jahre lang mit einer hartnäckigen Verehrung, die wie Stalking anmutet. 1909 befindet sich der 1857 im ostpreußischen Matziken geborene Schriftsteller schon länger in einer Sinnkrise. »Die Ehre« hat ihn zum umfeierten Star gemacht, vier Jahre später gelingt ihm mit »Heimat« der große Coup.

Zum Verhängnis wird dem Berliner Schriftsteller der »Kritikerstreit«, den er 1902 selbst mit seiner strengen Schrift »Über die Verrohung in der Theaterkritik« auslöst. Sie verursacht heftige Gegenreaktionen, die Kontrahenten in Berlin bilden eine geschlossene Front. Die Korrespondenz Sudermanns mit seinem Arzt Wilhelm Fliess lassen ihn tatsächlich als einen kranken Mann erscheinen, ein Workaholic, der schon 1884 »körperlich heruntergekommen und psychisch erschöpft« ist. Sudermann missachtet die Warnsignale, die sein Körper ihm sendet: Ende 1916 erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Am 21. November 1928 stirbt er in Berlin im Alter von 71 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt ist Anna Julia Wolff bereits sieben Jahre tot. Wo sie sich zuerst begegnet sind, liegt im Dunkeln der Vergangenheit. Vielleicht hat sie, wie so oft, Spenden für den Verein Berliner Journalisten oder den Verein für Kinder-Volksküchen gesammelt. Sie ist eine sozial eingestellte Frau, die auch die weniger Begünstigten im Leben nicht vergisst, eine Gemeinsamkeit, die sie mit Sudermann teilt, dessen Werke öfter den Bogen zum sozialen Drama des Naturalismus spannen.

Am 26. Mai 1866 kommt sie als Tochter des jüdischen Kaufmanns Hermann Levinthal und Theodora geb. Heinemann in Berlin zur Welt. »Ohne besonderen Stand« heiratet sie am im Oktober 1886 den Kaufmann Max Wolff. Das Ehepaar bekommt zwei Kinder, Erich Wilhelm und Lucie Feodora Elisabeth. Langsam tastet Anna Julia sich an ihre schriftstellerische Karriere heran. Es sind schwierige Zeiten für schreibende Frauen, die zudem auch noch satirisch sein wollen. 1895 veröffentlicht sie ihr erstes Buch mit dem inoffensiven Titel »Laß dir erzählen. Novellistische Kleinigkeiten«. Es folgen satirische und humoristische Novellen im Bloch-Verlag und Verse, die unter anderem im Simplicissimus erscheinen.

Ihre beiden erhaltenen Briefe an Sudermann zeigen eine an unglücklicher Liebe krankende Frau, die zudem ungesund hartnäckig ist. Sie erkennt, dass ihre Liebe zu ihm aussichtslos ist, verfolgt ihn jedoch weiter und will sich dann angeblich mit dem bloßen räumlichen Zusammensein zufrieden geben: »denn wenn ich Ihnen nur gegenübersitzen und mit ihnen plaudern darf, so ist mir das ja Glücks genug.« Zugestanden hat Sudermann ihr in der Spätphase ihres beharrlichen Werbens noch zwei Begegnungen im Park von Blankensee. 1897 hat er das Anwesen gepachtet und ein lebendiges Museum mit antiken Skulpturen und südländischer Vegetation erschaffen. 1902 gehen Schloss und Park ganz in seinen Besitz über.

Sudermann flieht nicht zuletzt auch vor der Realität: seine naturalistischen Werke passen schon lange nicht mehr in das Konzept der Berliner Kritiker, die ihm Trivialität vorwerfen, dennoch hat er Erfolg beim Publikum. Blankensee zeigt auch deutliche Zügen der Besessenheit, die sich in einem ungezügelten Kaufrausch von Altertümern und seltenen Pflanzen widerspiegelt. Für Anna Julia Wolff ist dieses Gesamtkunstwerk wiederum ein Symbol für etwas Höheres und so stilisiert sie Sudermann als Mensch in Symbiose mit der Blankenseer Idylle zu einem Idealbild: »Wer es vermag, so viel hohe, weihevolle Schönheit in sein Leben zu tragen, der ist ein Erdmensch, dem zum Höchsten nur ein klein wenig verstehende Güte mangelt«.

Für Anna Julia Wolff wird die letzte Begegnung mit Sudermann zur »bittersten Stunde« ihres Lebens. Er begegnet ihr »eisig und unverblümt«, freiwillig solle sie »aus seinem Leben verschwinden«, ihr Verhalten sei »unwürdig und erbärmlich«. Sofort rudert sie zurück und schlägt einen Kompromiss vor, der keiner ist. Er sei »Sonne und Gott und Alles«, niemals sei er so selbstlos geliebt worden, wie von ihr. »Das Erotische« in ihren Empfindungen sei nebensächlich, behauptet sie, völlig ausschalten könne sie es jedoch nicht. In ihrer Hilflosigkeit bittet sie: »Und nun, nachdem ich Ihnen das alles gesagt habe, lassen Sie uns einen Kompromiß miteinander schließen. Ich kann nämlich ein ganz netter Kerl sein, wenn ich nicht gerade den sentimentalen Klaps habe. Wollen Sie es also auf dieser Basis mit mir wagen?« Sudermanns Antwort ist nicht überliefert. Am 26. Mai 1921 stirbt Anna Julia Wolff an ihrem 55. Geburtstag in Berlin. Ihre letzte Ruhe hat sie auf dem jüdischen Friedhof Weißensee gefunden.

Die Autorin recherchierte eigentlich über Anna Julia Wolff und stieß dabei auf die bisher unveröffentlichten Briefe an Hermann Sudermann im Deutschen Literaturarchiv.

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