Von der Würde des Denkens und der Kraft der Kultur
Olga Martynova reist in ihrem Essayband »Über die Dummheit der Stunde« durch Räume und Zeiten
Sie ist in Leningrad aufgewachsen und lebt seit 1991 in Frankfurt am Main: Olga Martynova ist in Deutschland und Russland zu Hause und offensichtlich viel in der Welt unterwegs. Aber nicht nur das, sie reist auch unermüdlich durch Räume und Zeiten der Literatur, und das mit solcher Geschwindigkeit, dass man ihr manchmal kaum folgen kann. Das führen nicht nur die in diesem Band zusammengestellten Essays aus rund zwei Jahrzehnten vor Augen, davon konnte man sich schon durch ihre Romane, vor allem »Mörikes Schlüsselbein« (2013), überzeugen oder irritieren lassen. »Ich habe Angst vor den Geheimnissen der Zeit«, hieß es in ihrem ersten Roman »Sogar Papageien überleben uns«. Im Essay »Die Zeit als Haustier« von 2017 in diesem Buch sinnt Olga Martynova bei der »Betrachtung einer Uhr« dem Wandel von Uhren und damit von Zeit nach. Sie denkt an die Verschränkung von Lebenslust und Todesangst in früheren Epochen, besonders im Barock, und an den Verlust beider Kategorien im digitalen Zeitalter, das mit dem Verschwinden der (oft wertvollen) mechanischen Uhren und des Zeitbewusstseins einhergeht.
Essaybände mit breitem thematischen Spektrum haben immer Vorteile und Nachteile. Das gilt auch für diesen Band, dessen Autorin sich der »Zugluft Europas« (so einer ihrer Gedichtbände) ausgesetzt sieht. Diese Zugluft, besser dieser Sturm, hat ein Jahrhundert durchweht und Trümmer angehäuft, von denen Martynova einige mühevoll wieder zusammenfügt, soweit das eben möglich ist.
Der Nachteil ist, dass man schnell, eigentlich zu schnell, von einem Thema zum anderen springen muss, hier von Reisen ins heutige St. Petersburg oder nach Jerusalem, ins alte und neue Moskau, nach Lissabon oder auf die Krim bis hin zu »Problemen der Essayistik«, von Alltäglichkeiten wie einem alten russischen Salatrezept hin zum modernen Small Talk oder von großer russischer Dichtung hin zur »Dummheit der Stunde« heute.
Der Vorteil ist, dass die Autorin »Meilensteine« setzt, Wegweiser zu tragischen Schicksalen russischer Dichter, zu den gravierenden historischen Brüchen und zur heutigen geistigen Situation in Europa. Da ist Olga Martynova mit ihrer in russischen Zirkeln der 80er Jahre erlernten Kritikfähigkeit und Hellhörigkeit eine unerschöpfliche Quelle.
Der Leser wird zum Mitdenken herausgefordert. Ein Musterbeispiel ist die Antrittsvorlesung als Heiner-Müller-Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin von 2016, die schon mit dem Titel »Flaschenpost versus Flaschenpost« auf das Dialogische zwischen Dichter und Leser, Sendendem und Empfänger, weist. Botschaften werden unter Umständen in geschlossenen »Flaschen« oder »Kassibern« weitergegeben, wovon die in die Lager verschleppte russische Intelligenzija oder später die Leningrader Boheme haben Lieder singen können. »Die Liebe zur Literatur«, heißt es an anderer Stelle, »fördert nichts so sehr, wie es sie stärkt, wenn die Literatur öffentlich unterdrückt wird.« Musterbeispiele aus der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt es genug. So erfährt man von den »Oberiuten«, den letzten Vertretern der russischen Moderne um Daniil Charms. Die Autorin erinnert an Ereignisse und »imaginäre Schicksale« der großen Dichter und Dichterinnen, die fast ausnahmslos schrecklich endeten, an die von Blok, Gumiljow, Jessenin, Majakowski, Zwetajewa, Mandelstam. Immer wieder kommt sie auf den im Exil in den USA gestorbenen Joseph Brodsky zu sprechen, dessen Einfluss auf die Leningrader Literaturszene der 80er Jahre bei uns in Deutschland nur Insidern bekannt ist.
Dabei richtet Olga Martynova ihren kritischen Blick auch auf die Gegenwart. Schonungslos nimmt sie das heutige Bildungssystem einer »Leser-Minoritäten«-Gesellschaft unter die Lupe. »Fast ist es schon schick, blöd und ungebildet zu sein«, heißt es da, und deshalb überschreibt sie den Essay-Band »Über die Dummheit der Stunde«. Der möchte sie die Würde des Denkens und die Kraft von Kultur und Literatur entgegensetzen, ein hoher Anspruch. Im Jahr 2017 reiste die Autorin auf die Krim, eine »Zone zwischen allen Realitäten ... schwer mit Geschichte und Geschichten beladen«. Als sie über St. Petersburg nach Frankfurt am Main, ihre jetzige Heimat, zurückkehrt, hat sie für die deutschen Leser ein informatives, politisch neutrales Reisetagebuch im Gepäck.
Olga Martynova: Über die Dummheit der Stunde. Essays. S. Fischer Verlag, 300 S., geb., 22 €.
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