Wo die Galgen grünen
Poesiealbum: Die Gedichte von Immanuel Weißglas
Im Versuch, den Tod zu beschreiben, vollendet sich noch jedes Dichters Lebendigkeit, nämlich: sein unweigerliches Scheitern. Der Tod ist das große erste letzte Geheimnis. Unser Vermögen, die Transzendenz zu denken, unsere Gabe, das Unerfassliche fantasierend zu übersteigen - es befreit, und gleichzeitig verstrickt es uns nur umso tiefer ins Gefühl des Ausgesetztseins, ins Erschrecken über das zufällig Hingeworfene unserer Existenz. Kein wirkliches Ergründen ihrer selbst ist uns gegönnt. Im Augenblick eines fremden Todes ganz in unserer Nähe wird der Sinn, dem wir unserem Leben bis dahin gaben, sehr nichtig, aber dann begreifen wir die Paradoxie: dass dieser mühsam erarbeitete Sinn in jenem Augenblick der rüttelnden Trauer seine wichtigste Bewährungsprobe hatte. Denn der Sinn oder wenigstens die Sehnsucht nach Sinn, unsere Abhängigkeit von Sinn - das arbeitet in uns wie ein Motor wider das Tierische; und jetzt, nach dem Tod eines nahen Menschen, beginnt: die Feier unseres eigenen Überlebens. Ja, im Prinzip ist alles sehr einfach: Jemand stirbt, wir leben noch, wir sind diesmal verschont geblieben. Das ist jenseits und hinter aller Trauer ein Triumph, der uns beschämt. Aber doch auch rettet. Das vor allem. Vorläufig. »Und unbesiegt, seht her, doch ohne Sieg/ Ging ich im Niemandsland des Lieds verloren.«
In der Auswahl, die Kathrin Schmidt aus Gedichten des Czernowitzer Schriftstellers Immanuel Weißglas getroffen hat, ist der Tod der alles bedrängende Stoff. In eines Lebens Unterwegs, »wo Galgen grünten, Gräber blühten«. Tod im Moor, im fremden Land, am Flusse Bug, umrankt von Luzerne - Trauergeist eines Dichters aus der Bukowina, lebenslanger Freund von Paul Celan, und wie dieser ist Weißglas tief getroffen von der Reinigungsgier des 20. Jahrhunderts; Reinigung, die meist nur ein einziges Mittel benutzte: Blut. Celans »Todesfuge« aufgreifend, schreibt Weißglas: »Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,/ Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.«
Ab 1945 lebte Weißglas in Bukarest, als Pianist, Redakteur und Archivar: Seine Verse besingen Himmelfahrt und deutsche Dome, Brunnen, Münzen und das »Gleichnis Gras«, sie lesen sich wie eine Wegbeschreibung entlang des Abgrundes, der zwischen dem Traum vom gelungenen Dasein und der grauen Wahrheit des Lebens liegt. Was Weißglas (1920 - 1979) beschreibt, ist Leiden, aber in alldem blieb er, ja: ein gütiger, sanfter Mensch. Diese Gedichte sind im Zustand dunkel, sofern sie von keinem Ziel mehr wissen, und sehr hell, sofern der Dichter vor seiner eigenen Klarsicht nicht ausweicht. So bitterwahr sein Gedicht mit dem Titel »Wegesschlaf«: Abschied, Not der Flucht, Härte der Vertreibung unterm Mondlicht. »Ich sollte, sagt mir das Gestirn, / mein Kind im Schlummer nicht verwirrn. / Und will es auf die Augen küssen / wir werden beide wandern müssen.«
Poesiealbum 334: Immanuel Weißglas. Auswahl: Kathrin Schmidt, Grafik: Paul Goesch. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., brosch., 5 €.
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