Ein neuer Blick auf die Stunde Null
Der amerikanische Literaturwissenschaftler Werner Sollers hat sich das geistige Klima der 1940er-Jahre vorgenommen
Wenige Kapitel scheinen historisch so erschöpfend behandelt wie das Deutschland der Nachkriegszeit, jener Schwebestatus zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht, der zwischen der russischen und den alliierten Besatzungszonen und den Staatsgründungen von BRD und DDR lag. Die geschichtliche Faktenlage scheint geklärt - nicht zuletzt aufgrund der Funktion, die dieser Epoche in der Rückschau zukommt: Kollektive Läuterung vom Geiste des Faschismus, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder. Die Geschichte hat diesem Moment seinen Platz zugewiesen: als »Stunde Null«, als Neuanfang, als Erfolgsgeschichte.
Als der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Werner Sollors sich mit dieser Epoche zu beschäftigen begann, merkte er schnell, dass die Dinge auch hier komplexer liegen, als es auf den ersten Blick scheint. Sollors begann seine Recherchen auch aus biografischen Gründen - er wuchs unter amerikanischen Besatzern auf, nachdem seine Mutter ihn 1945 im Kinderwagen von Schlesien westwärts geschoben hatte. Aus der Unbeschwertheit seiner eigenen Erinnerung erwartete er, eine heitere Geschichte dieser Stunde Null aufzuschreiben. Was er hingegen während seiner Recherchen Schicht für Schicht freilegte, war von ungleich dunklerer Koloratur - Sollors fand ein Land in kollektiver Depression vor: In Interviews begegneten ihm Suizidgedanken, Tagebucheinträge waren durchzogen von Hoffnungslosigkeit, Fotografien zeigten Ruinen und Elend, die den Zeitgenossen als ewige Strafe erscheinen mussten. Immer wieder stieß Sollors auf jene »Versuchung, zu verzweifeln« - eine Ungewissheit in Anbetracht der Zukunft, die nicht von Hoffnung, sondern von Angst und Resignation bestimmt war.
Diesen »intensiven kulturellen Augenblick« der Nachkriegsjahre unterzog Werner Sollors einer akribischen Recherche. Er näherte sich dem Thema nicht als Historiker, der nach Ursache und Wirkung forscht, sondern mit dem Handwerkszeug des Kulturwissenschaftlers. Im besten Sinne assoziativ legt er die Geschichten der gesammelten historischen Dokumente frei: Ausgehend von Fotografien, Tagebucheinträgen, Interviews, Artikeln und Berichten entwickelt Sollors Betrachtungen, die in ihrer Tiefe stets über den Einzelfall hinausgeht.
Den groben Linien einer monokausalen Geschichtsschreibung setzt er so ein kleinteiliges und komplexes Mosaik menschlicher Wahrnehmung entgegen. Sollors lässt einzelne Stimmen zu Wort kommen, deren Wahrnehmungen oftmals widersprüchlich erscheinen, die aber gerade deshalb in ihrer Gesamtheit wahrhaftig sind.
Mit Klarheit und Witz erzählt Sollors jene kleinen Geschichten, in denen sich große Geschichte spiegelt, und die die Verbrechen der Deutschen ebenso wie ihr Leid behandeln: Die durchsickernde Wahrheit über den Holocaust, die ersten Diskurse über Kollektivschuld, die nachhallenden Erzählungen über die Verbrechen von Wehrmacht und Waffen-SS, aber auch den Hunger, die Plünderungen, die Vertreibungen und Vergewaltigungen. Sollors verwebt diese beiden Narrative mit einer Selbstverständlichkeit, die wohl dem Blick von außen vorbehalten ist - Sollors lebt und forscht seit Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten von Amerika.
»Die Versuchung, zu verzweifeln« ist nicht nur aufgrund historischer Richtigstellungen ein wertvoller Beitrag zu einer Epoche, die nur scheinbar ausgeforscht ist. Die Darstellung von Zwischentönen, das Aushalten von Widersprüchen und das Aufspüren bislang ungehörter Zeitzeugen zeichnen ein differenziertes und von dem Wunsch um Verständnis getriebenes Bild, das man sich auch für jüngere Epochen der deutschen Geschichte bislang vergebens wünscht.
Werner Sollors: Die Versuchung, zu verzweifeln. Geschichten aus den 1940er-Jahren. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 397 Seiten, 24 €
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