Große Gefühle in der Provinz

Kent Haruf: Neues aus der Kleinstadt Holt

  • Mona Grosche
  • Lesedauer: 3 Min.

Der US-amerikanische Autor Kent Haruf ist hierzulande noch wenig bekannt. Doch wie bereits der Roman »Unsere Seelen bei Nacht«, der 2017 auf Deutsch erschien, beweist auch der aktuelle Titel »Lied der Weite«: Haruf war eine bedeutende Stimme der US-amerikanischen Literatur. Es ist ein Jammer, dass er 2014 mit nur 71 Jahren verstorben ist.

Dabei wirkt sein Werk zunächst wenig spektakulär, schließlich sind seine Geschichten meist in der fiktiven Kleinstadt »Holt« in Colorado angesiedelt, und bei den Protagonisten handelt es sich um Viehzüchter, Highschool-Kids und alte einsame Damen. Auch was sie zwischen Güterzuggleisen, Farmen und Feldern erleben, ist auf den ersten Blick alles andere als »großes Kino«.

Doch Haruf versteht es, ganz leise und lakonisch aufzuzeigen, dass es so etwas wie ein »kleines« Leben nicht gibt. Gerade die »einfachen Leute« erleben bei ihm die Höhen und Tiefen des menschlichen Seins mit voller Wucht. Liebe und Hass, Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe, Aggression und menschliche Güte prallen da so unmittelbar aufeinander, dass es der großen Bühne in nichts nachsteht.

So auch in »Lied der Weite«. Im Mittelpunkt steht die 17-jährige Schülerin Victoria, die ungewollt schwanger ist und deshalb von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt wird. Zum Glück findet Lehrerin Maggie für sie eine neue Bleibe bei den alten McPheron-Brüdern, die auf ihrem Gehöft Kühe züchten. Das ungewöhnliche Trio aus den beiden Junggesellen und ihrem jugendlichen Gast gewöhnt sich schnell an das Leben miteinander, bis dann unverhofft Victorias Freund wieder auftaucht … Doch nicht nur Victoria hat große Probleme.

In der Familie des Lehrers Tom Guthrie ist auch nichts mehr, wie es einmal war: Seine Frau leidet unter Depressionen und zieht zum Kummer und Unverständnis der beiden Söhne, Ike und Bobby, nach Denver zu ihrer Schwester. Vater Tom hat nicht nur alle Hände voll zu tun, den Söhnen die Mutter zu ersetzten, sondern auch Stress an der Highschool, wo ihm ein aufsässiger, tumber Gewalttäter das Leben schwer macht …

Das ist alles andere als eine Idylle. Auch in der Provinz wird am Ende keineswegs alles gut. von schlimmen Demütigungen ist die Rede, von tiefen Verletzungen, wie von großen Jungen gequält oder vom Freund zum Sex »ausgeliehen« zu werden. Nachfühlen kann man die tiefe Trauer, wenn eine alte Dame alleine in ihrem Sessel stirbt oder das geliebte Pferd qualvoll verendet.

Das alles erzählt Haruf zart, leise, aber präzise beobachtet. Ohne Knalleffekte oder Rührseligkeit zeigt er, wie einfach es eigentlich ist, als Mensch innere Größe zu erlangen. Aber er verschweigt auch nicht, dass dies ein Kraftakt ist, der manchen nicht gelingt. Großartige Literatur, die einen melancholisch und froh zugleich stimmt.

Kent Haruf: Lied der Weite. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein. Diogenes, 384 S., geb., 24 €.

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