Die Wahrheit, die Liebe

Janet Lewis hat einen Kriminalfall aus dem 16. Jahrhundert aufgegriffen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Durch einen Zeittunnel gehen wir aus unserem Heute zunächst ins Jahr 1941, als dieser Roman in den USA erstmals veröffentlicht wurde, um dann 1549 anzukommen, wenn die Handlung beginnt.

Im französischen Dorf Artigues nahe den Pyrenäen wird die Hochzeit zweier Kinder gefeiert: »Bertrande de Rols, elf Jahre alt, und Martin Guerre, der auch nicht älter war, beides Kinder reicher Großbauern, die so altehrwürdig, so feudal, so stolz waren wie alle Großbauern der Gascogne.« Im Kamin brannte ein großes Feuer, und die Steinplatten des Fußbodens waren mit Efeu- und Lorbeerblättern bestreut. »Im Widerschein der Flammen funkelten die Kupfertöpfe rötlich, und das reiche Aroma von Braten und frisch eingeschenktem Wein würzte die Luft ...«

Wie ein kostbares Gemälde wirkt das Bild, das Janet Lewis da malt, doch überdeckt es nicht unser Erschrecken: zwei Elfährige, verheiratet?

Denn besagter Zeittunnel ist natürlich durchlässig zur Gegenwart. Da wird uns den ganzen Roman über ein Befremden nicht loslassen, weil die Lebensumstände der Gestalten so anders sind, als man sie sich hätte vorstellen können. Weil die Autorin sie im Detail beschreibt, ohne sie zu bewerten, wird dieses Empfinden umso stärker. Dabei steht sie an der Seite von Bertrande de Rols, der beim Lesen alles Mitgefühl gilt.

Was eine patriarchalische Ordnung bedeutet, man erfährt es hier. Es sind klare Unterstellungsverhältnisse, in denen Menschen, die es nicht anders kennen, auch geborgen sein können. In denen auch eine Liebe wachsen kann, nicht vergleichbar mit der, wie wir sie heute kennen.

»Hausmacht« - ein heute fast unbekannter Rechtsbegriff. Martin ist schon kein Kind mehr, als sein Vater ihm zwei Zähne ausschlägt, weil er ohne seine Erlaubnis auf Jagd gegangen ist. Er ist schon ein erwachsener Mann und hat selber einen Sohn, als er aus Furcht vor noch schlimmerer Strafe fortgeht, denn er hat vom Saatgetreide des Vaters genommen, um sein Feld zu bestellen. Niemand wusste danach, was aus ihm geworden war. Acht Jahre waren vergangen, in denen sich Bertrande in Sehnsucht verzehrt hatte, während ihr Sohn heranwuchs. Plötzlich trat ihr Mann durch die Tür. Eine »Gestalt in Leder und Stahl« mit Augen voller Bewunderung: »Madame … du bist sehr schön.«

Wie nun alles aufblühte - der Hof, die Dienerschaft und Bertrande sowieso, die feststellte, dass sie schwanger war. Nur »manchmal ging eine merkwürdige Angst sie an, eine so entsetzliche und unnatürliche Angst, die sie sich selbst in ihrem geheimsten Herzen nicht einzugestehen wagte.« Was, wenn jener Martin nicht der echte war? Dabei liebten sie einander. Doch so seltsam es war, gerade seine Zärtlichkeit war ihr verdächtig - und mehr noch ihr eigenes Begehren.

Was für ein Konflikt! Man müsste es für eine irrwitzige Erfindung halten, wüsste man nicht, dass Janet Lewis einen der berühmtesten Rechtsfälle aus der französischen Geschichte aufgegriffen hat. Dem sie allerdings wohl Nuancen hinzufügte, denn was die Frau da quält, ist nicht nur ein Verdacht, der sie einsam macht, das ist vor allem die Furcht vor Sünde. Wenn er ein anderer war, dann war sie verdammt.

Niemand versteht sie, sogar der Priester weist sie ab. Alle erkennen in dem Heimgekehrten unfehlbar Martin Guerre. Und bezeichnenderweise kommt es erst dann zum Konflikt, als er von seinem Onkel Pierre, der nach dem Tod seines Vaters zum Hausherrn wurde, geliehenes Geld zurückverlangt. Wem sollen wir glauben? Wie könnte jemand alles über Martin wissen und nicht er selber sein? Lange lässt uns die Autorin im Zwiespalt und versteht bis zum Schluss des Buches, die Dramatik zu steigern. »Madame, ich wünschte mir, dass ihr nach wie vor getäuscht wäret. Wir waren alle glücklich damals«, sagt die alte Haushälterin. Hegte sie vielleicht insgeheim auch einen Verdacht? Bertrande dagegen: »Die Wahrheit bleibt doch die Wahrheit.« Was für einen Schrecken sie mit ihrem Rigorismus über ihre Familie bringt und auch über sich selbst …

»Sie hat sich für Bertrande Guerre interessiert und ihrer zarten französischen Heldin aus dem sechzehnten Jahrhundert ein hartes, ernsthaftes und tapferes Gemüt aus dem amerikanischen mittleren Westen zugeschrieben«, sagt Judith Hermann über Janet Lewis im Nachwort zum Buch. Aber da gibt es noch etwas Tieferes: Bertrande hat nur Beziehungen zwischen Männern und Frauen gesehen, in denen es ein Machtgefälle gab. Von einem Mann geachtet, ja bewundert zu werden, das kann sie nicht glauben. Sie gönnt sich ihr Glück nicht. Wie eines Abends am Kamin selbst das Heulen der Wölfe sie mit Behagen erfüllt hatte, erinnert sie sich und mutmaßt, dass ihre Liebe zu diesem neuen Martin Guerre, »wie das Wohlgefallen am Heulen der Wölfe noch gesteigert wurde von dem anhaltenden Wahn oder dem Argwohn, dass dieser Mann nicht Martin war.«

Janet Lewis: Die Frau, die liebte. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. Deutscher Taschenbuch Verlag. 128 S., geb., 18 €.

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