Noch wird der Briefkasten täglich geleert ...

Wildenbörten bei Gera hat einen Altersdurchschnitt von 54,9 Jahren - es ist Thüringens älteste Gemeinde

  • Lesedauer: 4 Min.

Wildenbörten. Gepflegte Gehwege, akkurat geschnittene Hecken, völlige Stille um die Mittagszeit - und kaum jemand auf der Straße im ostthüringischen Wildenbörten. »Ja, die Leute bleiben meist in ihren Häusern«, sagt Gislinde Knötzsch. Nur im Sommer tummelten sich die Einwohner der Gemeinde in ihren Gärten. Die Rentnerin schiebt das darauf, dass vor allem ältere Menschen in Wildenbörten leben. Und die Statistik gibt ihr Recht: Die Bewohner der Gemeinde haben den höchsten Altersdurchschnitt in ganz Thüringen.

Im Jahr 2000 hatte die Gemeinde noch 420 Einwohner, im Jahr 2015 waren es dann nur noch 258. »Die Altersstruktur ist tatsächlich schwierig«, sagt Pfarrer Thomas Eisner. Eine einzige Konfirmation gab es in diesem Jahr in der Gemeinde. »Und es wird eine Stück dauern, bis wieder eine kommt«, sagt der Seelsorger. Immerhin hatte er im vergangenen September die Freude, ein kleines Mädchen in der Wildenbörtener Kirche zu taufen. Den Altersdurchschnitt, der nach den jüngsten Zahlen des Thüringer Landesamtes für Statistik im Jahr 2015 bei 54,9 Jahren lag, wurde durch den Neuankömmling allerdings nicht wesentlich gesenkt.

Die Gemeinde Wildenbörten liegt mit ihren vier Ortsteilen Graicha, Dobra, Hartroda und Kakau im Westen des Landkreises Altenburger Land. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Gemeinde im Jahr 1140. Zur damaligen Zeit war das Gebiet Siedlungsraum von Slawen, die das waldreiche Hügelland in Ackerland umwandelten. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Gemeinde stark von Landwirtschaft geprägt. Heute ist der Ort - bis Gera sind es nur ein paar Kilometer - in erster Linie ein Wohnstandort. Einfamilien- und Fachwerkhäuser sowie einige Vierseitenhöfe bestimmen das Ortsbild.

»Die Jungen heiraten und gehen zur Arbeit fort«, erzählt Karl-Otto Knötzsch. Auch in der eigenen Familie sei es so gewesen. Sohn und Tochter seien nach Gera und Dresden gezogen. »Die kommen nicht wieder«, erklärt der Rentner resigniert. Kinder gebe es kaum noch, für junge Familien habe die Gemeinde nicht viel zu bieten: Einen Kindergarten gibt es nicht, zur Grundschule müssen Kinder ins benachbarte Löbichau gehen. Einkaufsmöglichkeiten sind vor Ort nicht vorhanden, der Konsum hat 1991 seine Pforten geschlossen.

»Mit dem Konsum ist auch der einstige Kommunikationspunkt verschwunden«, sagt Gislinde Knötzsch. Als sie 2001 aus dem Berufsleben als Lehrerin ausschied, wollte sie sich nicht einfach zur Ruhe setzen. »Ich war mein ganzes Leben aktiv.« Deshalb rief sie 2003 die »Bastelfrauen« ins Leben. Mit 15 Frauen ging es damals los. Die »Bastelfrauen« zeigen ebenfalls die Alterspyramide, die Wildenbörten prägt: Von 60 plus bis 88 Jahre reicht die Altersspanne der Teilnehmerinnen.

Die »Bastelfrauen« sind nur ein Beispiel dafür, wie ehrenamtliches Engagement das Gemeindeleben aufrecht erhält. Nicht nur sportlich, sondern auch bei der Organisation von Familienfesten und dem »Traditionellen Börtener Äppelball« ist der TSV 1896 Wildenbörten eine feste Bank, die Freiwillige Feuerwehr der Gemeinde lädt zu Ausfahrten ein, die Naturfreunde rund um Norbert Riedel treffen sich regelmäßig. Freitags wird im Bürger- und Vereinshaus Skat gespielt - gemeinsam mit Kartenspielern aus Altenkirchen, Löbichau, Dobra und Nöbdenitz.

Noch wird der Briefkasten in der Gemeinde einmal täglich geleert, noch fährt der Bus mehrmals am Tag. »Aber die Bauwilligkeit ist nicht besonders groß«, sagt Karl-Otto Knötzsch. So sind die Aussichten gering, dass Wildenbörten sich in absehbarer Zeit deutlich verjüngen kann. »Traurig, diese Entwicklung«, findet er.

Thüringen wird zusammen mit Sachsen-Anhalt in den nächsten beiden Jahrzehnten der größte Bevölkerungsrückgang in Deutschland prognostiziert - während die deutsche Bevölkerung insgesamt bis 2035 um eine Million auf mehr als 83 Millionen Menschen anwächst. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln verliert Thüringen bis zum Jahr 2035 10,2 Prozent seiner Einwohner. Höher falle der Einwohnerschwund in diesem Zeitraum nur in Sachsen-Anhalt mit 10,6 Prozent aus. Auch die anderen ostdeutschen Bundesländer büßen Einwohner ein; Sachsen laut Prognose allerdings nur drei Prozent oder Mecklenburg-Vorpommern 4,8 Prozent.

Nach Zahlen des Statistischen Landesamt hatte Thüringen zum Stichtag 30. Juni 2016 rund 2,16 Millionen Einwohner. dpa/nd

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -