Im Osten nichts Neues

Jarosław Kaczyński im schweren Mantel der Geschichte: Zu den neuen Deutungen in Polen. Von Holger Politt

  • Holger Politt
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Beschlüsse von Jalta im Februar 1945 gelten in Polen vielerorts als Verrat des Westens an seinem Verbündeten. Die jetzige Regierung macht da keine Ausnahme, präsentiert sich hier sogar noch radikaler. Das treibt das nationalkonservative Lager mitunter zu etwas aus der Zeit gefallenen Einfällen, wie die jüngst lautstark erhobene Forderung nach Reparationszahlungen der Bundesrepublik für die während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg erlittenen menschlichen und materiellen Verluste.

In Jalta hatten Stalin, Roosevelt und Churchill sich endgültig geeinigt auf den grundsätzlichen Verlauf der künftigen Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen. Als Ausgleich sollte Polen im Westen und Norden auf Kosten des besiegten Deutschlands einen wesentlichen Gebietszuwachs erhalten. Ohne den gescheiterten Warschauer Aufstand vom August 1944 zu erwähnen, wurde von einer neuen Lage in Polen gesprochen, die nach der vollständigen Befreiung durch die Rote Armee entstanden sei. Die drei Führer der Anti-Hitler-Koalition einigten sich auf die Bildung einer Provisorischen Polnischen Regierung, die durch die Reorganisierung der bestehenden, von der Sowjetunion eingesetzten provisorischen Regierung in Lublin gebildet werden sollte. Gefordert wurde die Einbeziehung von demokratischen Persönlichkeiten in Polen und aus dem polnischen Exil, die die Beschlüsse von Jalta akzeptieren.

Die Trümpfe in der Auseinandersetzung um das künftige Polen lagen nunmehr in der Hand Stalins. Denn mit der Kapitulation des Warschauer Aufstands hatte die Londoner Exilregierung ihren militärischen Arm in Polen verloren. Angesichts unguten Erfahrungen von 1938/39 wollte Stalin ein »starkes Polen« als Verbündeten und Schutz für die Grenzen der Sowjetunion. Die auf sein Geheiß bereits im Sommer 1944 eingesetzte provisorische Regierung wurde nach Kriegsende um die besagten »Jalta-Demokraten« erweitert, so dass der diplomatischen Anerkennung durch die Westmächte nichts mehr im Wege stand. Die Londoner Exilregierung gab es damit nicht mehr. Das Bekenntnis der 1990 um Ostdeutschland vergrößerten Bundesrepublik zur Oder-Neiße-Grenze machte den Weg frei für die EU-Osterweiterung.

Seit Jahren versucht nun aber Jarosław Kaczyński ein Geschichtsbild zusammenzuschustern, das keinen Zweifel mehr lässt, welches Unglück Polen mit den Beschlüssen von Jalta widerfahren sei. Regierungsnahe Medien unterstützen ihn dabei kräftig. Als die wahren Helden des Widerstandes im Zweiten Weltkrieg werden jene polnische Soldaten gefeiert, die nach der Niederlage des Warschauer Aufstands gegen die sich durchsetzende Ordnung von Jalta weiterkämpften. Diese versprengten, irrlichternden Waldpartisanen hätten, so die Nationalkonservativen, die Traditionslinie des antikommunistischen Widerstands begründet. Zudem wurde als außenpolitisches Druckmittel die Reparationsfrage wiederentdeckt. Einer ihm politisch nahestehenden Wochenzeitung erklärte Kaczyński kürzlich, weshalb dieses Thema für Polen so wichtig sei:

Erstens werde durch die Forderung nach Reparationen in aller Welt öffentlich, welches Unrecht den Polen im Zweiten Weltkrieg zugefügt worden war. Und wenn Polen im Ausland immer wieder als Helfershelfer und Verbündete der Deutschen an den Pranger gestellt würde, müsse man entsprechend gegengehalten. Zweitens, so Kaczyński, müsse verhindert werden, dass jenem Volk, das nach den Juden während des Zweiten Weltkriegs am meisten gelitten habe, vorenthalten werde, was ihm zustehe: »Wir können uns nicht einverstanden erklären, dass alles Böse und alle Verbrechen des Zweiten Weltkriegs auf den Holocaust hinauslaufen.« Und schließlich, so Kaczyński triumphierend, erlaubten die Reparationsforderungen die sehr genaue Identifizierung der »deutschen Partei« in Polen, der es vollständig an Loyalität gegenüber dem polnischen Staat fehle. Misstrauen soll gesät werden gegen diejenigen, die nach Ansicht Kaczyńskis gar nicht in der Lage seien, polnische Interessen im Innern wie nach außen durchzusetzen. Dass dabei aber auch ein mühsam aufgebautes Geflecht internationaler Beziehungen leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird, wird beflissentlich übersehen. Vielleicht ist aber auch die Ahnung, dass die Integration Polens in die EU-Strukturen bereits viel zu weit fortgeschritten ist, der Stachel, um sich wie ein Elefant im Porzellanladen zu bewegen.

Unser Autor ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

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