Werbung

Messias? Satan!

Grigori Kanowitsch im litauischen Schtetl

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach »Kerzen im Wind« (auch unter dem Titel »Ewiger Sabbat«), »Ein Zicklein für zwei Groschen« und »Kaddisch für mein Schtetl« kommt jetzt mit »Die Freuden des Teufels« der vierte Roman Grigori Kanowitschs auf Deutsch heraus. Der Autor, 1929 in der Familie eines jüdischen Schneiders im litauischen Jonava geboren, gehört seit den 1970er Jahren zu den angesehensten Schriftstellern seines Landes. Er hat in Vilnius Philologie studiert und schreibt seit 1948 auf Litauisch und Russisch Gedichte, Schauspiele, Filmdrehbücher, Erzählungen und Romane. Sie sind von der Tradition des russischen und jiddischen Realismus geprägt. Personen und Fakten sind glaubwürdig, meist aus persönlicher Erfahrung geschöpft. 1989 bis 1993 war Kanowitsch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Litauens. Seit 1993 lebt er in Israel.

Grigori Kanowitsch: Die Freuden des Teufels. Roman.
A. d. Russ. v. Franziska Zwerg. Nachw. Karl-Markus Gauß. Corso Verlag. 160 S., geb., 19 €.

Hauptthema ist das Schicksal der Juden in den kleinen Schtetln Litauens, jener Bevölkerungsschicht, die 1940/41 unter der wechselnden Besetzung durch Sowjetarmee und Wehrmacht am meisten zu leiden hatte. Nach dem Beispiel William Faulkners, dessen Romane in dem fiktivem Yoknapatawpha County spielen, hat Kanowitsch seine Werke im Landstrich zwischen den Flüssen Memel und Wenta angesiedelt, von den Litauern Žemaitija, von den Russen Žmud’ und von den Juden Zamut genannt.

Ort der Handlung ist hier das Schtetl Miškine »hinter den Wäldern«. Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich das litauische Rossieny, das während des Zweiten Weltkriegs fast völlig zerstört wurde. Die Handlungszeit fällt in die Jahre, in denen Litauen zuerst von der Roten Armee und danach von der deutschen Wehrmacht okkupiert wird und beide Mächte das Land nach ihrem Konzept »säubern«. Die Sowjets enteignen und verbannen »Ausbeuter« und »Kulaken«, die Wehrmacht ermordet die Juden oder sperrt sie in Ghettos.

Eine Hauptgestalt des Romans ist Danuta Skubiszewska, eine polnische Katholikin, deren Vater in der Leibgarde des russischen Zaren Nikolai II. diente. Danuta verfällt dem Charme des jüdischen Schauspielers Ezra Dudak und übernimmt nach dessen Tod den Posten seines Vaters auf dem Jüdischen Friedhof von Miškine. Die »Goje« fürchtet den Tod nicht, scheint mit ihm verschwägert, begräbt den Schwiegervater, den zweiten Mann und den einzigen Enkel. Ihre Söhne Jakob und Aaron wachsen zwischen den Grabsteinen auf. Jakob übernimmt die Lebensgewohnheiten der Juden, arbeitet als Totengräber und verliebt sich in Elischeba, die Tochter eines jüdischen Schneiders, die ihren Traum vom Gelobten Land Palästina nicht verwirklichen kann. Aaron heiratet Elischebas Schwester, gibt das Schneiderhandwerk auf, sympathisiert mit den Sowjets und geht zur politischen Schulung nach Moskau.

Fast alle Juden im Roman finden ein tragisches Ende, sterben, verüben Selbstmord, landen im Ghetto oder Gefängnis. Schuld daran sind jene, die dem Blendwerk des Teufels verfallen, der Verführungskraft der »Dämonen« oder »Bösen Geister«, vor denen schon Dostojewski gewarnt hat. In diesem Sinne umreißt Elischeba, die zweite Hauptgestalt, den Grundgedanken des Romans mit der Frage, warum wohl »der Teufel, der sich jedes Mal als Messias ausgibt, den Menschen in seine Fangnetze locken und zum Handlanger des Bösen machen kann«.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.