Dunkle Materie bleibt im Dunkeln

Rätselhafte Röntgenstrahlung aus dem All kommt wohl doch nur von bekannten Schwefelverbindungen.

  • Dieter B. Herrmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Die ominöse »Dunkle Materie« beschäftigt die Forschung inzwischen seit mehr als acht Jahrzehnten. Viel mehr als diesen Namen gibt es bisher aber nicht. Es war der Schweizer Astronom Fritz Zwicky, der bei seinen Versuchen, die Massen von Galaxienhaufen 1933 aus den Bewegungen ihrer Mitglieder zu berechnen, auf einen merkwürdigen Widerspruch stieß. Er stellte nämlich fest, dass sie deutlich größer sein müssten als die Summe der sichtbaren Massen, um ihre Bewegungen zu erklären. So postulierte er eine nicht sichtbare »Dunkle Materie«, die sich einzig durch ihre Gravitationswirkung bemerkbar macht, und erntete dafür in Fachkreisen einen Sturm der Entrüstung und Ablehnung.

Doch dann wurden auch innerhalb einzelner Sternsysteme Bewegungen festgestellt, die mit den Gesetzen der klassischen Physik nicht im Einklang stehen. So sollten sich die Sterne um die Zentren ihrer Galaxien nach den Keplerschen Gesetzen bewegen, d. h. innen schneller und außen immer langsamer. Stattdessen stellte sich heraus, dass dies nur für die Innenbereiche der Galaxien gilt. Dann bleiben die Geschwindigkeiten entweder konstant oder nehmen sogar wieder zu. Auch dies soll auf das Konto der »Dunklen Materie« gehen. Seit diesen ersten, damals noch angezweifelten Befunden ist die vorherrschende Meinung umgeschwenkt: Die meisten Astrophysiker sind inzwischen von der Existenz dieses merkwürdigen Etwas überzeugt.

Worum es sich bei dem Phänomen handelt, das immerhin rund 26,8 Prozent der Energiedichte des Universums ausmacht, wissen allerdings bis heute auch die Befürworter der Hypothese nicht. Ebenso bleiben jene Forscher stichhaltige Erklärungen schuldig, die die »Dunkle Materie« für ein Phantom halten.

An Vorschlägen über ihre Natur mangelt es nicht. Von einer modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND) bis zu seltsamen extrem schwach wechselwirkenden Teilchen reicht die Palette der Ideen. Experimentalphysiker suchen nach geeigneten, bislang unbekannten Partikeln, zum Beispiel mit dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt im Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf. Gefunden wurde bisher allerdings nichts. Wen wundert es da, dass Forscher gern hinter jedem neuen Phänomen, das sie nicht verstehen, Spuren der gesuchten »Dunklen Materie« vermuten?

Im Sommer 2014 kam neue Hoffnung auf. Mit den Röntgenteleskopen »XMM Newton« (X-Ray Multi-Mirror Mission) der Europäischen Raumfahrtagentur ESA und »Chandra« des US-Pendants NASA. Mit deren Hilfe hatten Forscher 73 Galaxienhaufen, das heißt Ansammlungen von Sternsystemen, untersucht und die verschiedenen Spektrallinien im Röntgenbereich vermessen. Dass im Raum zwischen den Galaxien kurzwellige Röntgenstrahlung emittiert wird, ist weder neu noch unerwartet, denn dort gibt es extrem heißen Wasserstoff mit einer Temperatur von über 10 Millionen Grad. Doch die Forscher fanden eine schwache Linie, die bis dahin völlig unbekannt war. Das ließ aufhorchen.

Da Spektren so etwas wie den charakteristischen Fingerabdruck von leuchtenden Gasen darstellen, hätten auch andere Linien auftauchen müssen, die zu einem entsprechenden Element passten. Aber nichts dergleichen. Also - so die Wissenschaftler - könnte es sich um ein schon länger vermutetes, aber noch nie gesichtetes subatomares Teilchen handeln, bei dessen Zerfall die Röntgenstrahlen ausgesendet werden. Dieses hypothetische sogenannte sterile Neutrino, das sich lediglich durch seine Gravitationswirkung verrät, gilt als einer der Kandidaten für die »Dunkle Materie«. Die beteiligten Experten blieben zwar vorsichtig, doch Norbert Schartel, Projektwissenschaftler der »XMM-Newton«-Mission der ESA, gab seiner Hoffnung Ausdruck, dem Geheimnis der »Dunklen Materie« möglicherweise näherzukommen. Wie sich vor wenigen Tagen herausstellte, war diese Hoffnung höchstwahrscheinlich verfehlt.

Parallelfälle aus der Astronomie sind durchaus bekannt: 1869 hatten Charles A. Young und William Harkness während einer totalen Sonnenfinsternis im Spektrum der Sonnenkorona eine unbekannte Linie entdeckt, die sie einem bis dahin unbekannten Element »Koronium« zuschrieben. Sie fühlten sich dazu durchaus berechtigt, denn die Spektralanalyse war noch jung und man bewegte sich auf Neuland. Außerdem hatten ein Jahr zuvor der Brite Joseph N. Lockyer und der Franzose Jules Janssen aus einer unbekannten Spektrallinie im Sonnenspektrum auf das »Sonnenelement« Helium geschlossen. Das kannte man tatsächlich noch nicht und es dauerte Jahrzehnte, bis es der Chemiker W. Ramsey 1895 im irdischen Labor erstmals identifizieren konnte. Nach demselben Muster hielten Forscher um 1925 unbekannte Linien im grünen Teil des Spektrums von Gasnebeln für Hinweise auf ein Element »Nebulium«.

Doch während »Helium« nachgewiesen wurde, entpuppten sich »Koronium« und »Nebulium« als nicht existent. Bei den spektralen Indizien handelte es sich vielmehr um unter den speziellen Bedingungen des Weltalls auftretende Linien längst bekannter Elemente wie Eisen, Argon, Kalzium oder Stickstoff und Sauerstoff. So nun auch im Fall der Röntgenblitze.

Forscher um José Crespo vom Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) und deren niederländische Kollegen Liyi Gu und Jelle Kaastra schlagen vor, die rätselhafte Röntgenstrahlung auf Atomkerne des Schwefels zurückzuführen, die aus ihrer Umgebung ein Elektron aufnehmen, was dann zur Aussendung von Röntgenstrahlung führt. Elektrisch positiv geladene Schwefelkerne (ohne Elektronenhülle) sind in den heißen Gasen der untersuchten Gebiete durchaus vorhanden und ihre hohe elektrische Ladung befähigt sie, den Wasserstoffatomen ihrer Umgebung ihr Elektron zu »rauben«. Die Theoretiker aus den Niederlanden haben dieses Szenario durchgerechnet. Doch überzeugender als jede Theorie, in die auch immer teilweise fragwürdige Annahmen mit einfließen, ist natürlich ein Experiment. Und tatsächlich konnte die Vermutung inzwischen auch experimentell mittels einer Elektronenstrahl-Ionenfalle im Heidelberger MPIK bestätigt werden. Dabei wurde eine Schwefelverbindung in ein Vakuum eingespritzt. Die Schwefelatome sind anschließend durch Teilchenbeschuss ionisiert, also ihrer Hüllenelektronen entledigt worden, so dass nur die nackten Schwefelkerne übrig blieben. Dann beobachteten die Forscher, wie diese aus ihrer Umgebung Elektronen zu sich hinüberzogen. Danach kam es zu Röntgenemissionen, u. a. bei einer Energie von 3,47 Kiloelektronenvolt. »XMM-Newton« hatte Röntgenblitze bei einer Energie von circa 3,5 Kiloelektronenvolt gemessen.

Fazit: Forschung ist schwierig, langwierig, spannend und auch immer wieder mit Enttäuschungen verbunden. Triumphe sind selten und die »Dunkle Materie« hat ihre eigentliche Natur ein weiteres Mal nicht zu erkennen gegeben.

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