Lasst mich noch schlafen!

Chronobiologen plädieren für einen gestaffelten Beginn des Schulunterrrichts. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist vielerorts in Deutschland das gleiche Bild: Um sechs Uhr morgens oder noch früher klingeln in den Kinderzimmern die Wecker. Zahllose Schülerinnen und Schüler wälzen sich träge aus ihren Betten. Am liebsten würden sie sich einfach umdrehen und weiterschlafen. Doch sie müssen pünktlich in der Schule sein, wo der Unterricht normalerweise um acht Uhr beginnt, in manchen Bundesländern sogar schon um 7.30 Uhr.

Daran zu rütteln, ist schwierig. Denn hierzulande gelten Frühaufsteher traditionell als die wahren Leistungsträger. »Der frühe Vogel fängt den Wurm«, sagt der Volksmund - und irrt. Zumindest was die Schule betrifft. Für die meisten Schülerinnen und Schüler ist um acht Uhr morgens noch »mitten in der Nacht«. Unausgeschlafen räkeln sie sich auf ihren Stühlen und warten auf die erste Pause. Lust zum Lernen haben sie kaum und überdies Mühe, die geforderten Leistungen zu erbringen. Menschen dieses Chronotyps bezeichnen Schlafforscher auch als »Eulen«. Sie erreichen ihre Bestform erst im Laufe des Tages oder gegen Abend, kommen dafür aber morgens schwer in die Gänge. Im Gegensatz zu den sogenannten Lerchen, die schon in aller Herrgottsfrühe putzmunter aus dem Bett springen, abends jedoch schneller müde werden.

Ab einem Alter von etwa einem Jahr sind nahezu alle Kinder »Lerchen« und damit ein »Problem« für Eltern, die am Wochenende gern ausschlafen möchten. Mit Beginn der Pubertät verschiebt sich der Biorhythmus. Die meisten Jugendlichen werden nun zu Nachtmenschen, die kein Bedürfnis verspüren, abends früh ins Bett zu gehen. Viele müssen es auf Anweisung ihrer Eltern trotzdem tun. Doch statt einzuschlafen, liegen sie oft stundenlang wach und fühlen sich am Morgen, wenn der Wecker klingelt, wie erschlagen. Mit Anfang 20 stellt sich die innere Uhr eines Menschen erneut um, was dazu führt, dass wir abends etwas früher müde und morgens eher wach werden. Doch da ist die Schulzeit längst vorüber.

Für Till Roenneberg, Chronobiologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, besteht kein Zweifel: »Das Schulsystem arbeitet gegen die Natur der Jugendlichen.« Er plädiert deshalb für einen gestaffelten Beginn des Unterrichts an deutschen Schulen. Das heißt, in der Unterstufe könnte der Unterricht durchaus schon um acht Uhr anfangen. In der Mittelstufe sollte dies jedoch erst um neun und in der Oberstufe um zehn Uhr geschehen.

Auch der Tübinger Biologe Christoph Randler ist überzeugt, dass ein Unterrichtsbeginn um acht Uhr die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in arge Nöte bringt. Denn Spätaufsteher, die sich zu dieser Zeit noch in einem Leistungstief befinden, erhalten häufig schlechtere Noten als Frühaufsteher, die morgens schon topfit sind. Dieser Unterschied zieht sich durch bis zum Abitur, wie Randler in einer viel beachteten Studie nachweisen konnte. Darin setzte er den Chronotyp von 200 Studierenden in Beziehung zu deren Abiturnoten. Ergebnis: Die Frühaufsteher hatten am Gymnasium im Schnitt ein besseres Abschlusszeugnis erhalten als die Spätaufsteher. Das bedeute freilich nicht, dass die in der Studie erfassten »Lerchen« klüger seien oder mehr gelernt hätten als die »Eulen«, so Randler: »Sie hatten einfach nur das Glück, in jenen Stunden des Tages herausgefordert zu werden, in denen sie munter waren.« Sollte sich dieses Ergebnis in weiteren Studien bestätigen, wäre zu prüfen, ob der frühe Beginn des Unterrichts nicht die angestrebte Chancengleichheit im Schulsystem beeinträchtigt.

In anderen EU-Ländern, zum Beispiel in Frankreich, Spanien und Italien, können die Schulen den Beginn des Unterrichts selbst festlegen. Schon eine vergleichsweise geringe Verschiebung von 8 Uhr auf 8.30 Uhr wirkt sich positiv auf den Lernerfolg aus. Das hat ein Modellversuch in den USA ergeben, bei dem 200 Schülerinnen und Schüler der Klassen 9 bis 12 morgens eine halbe Stunde länger schlafen durften als gewöhnlich. Tatsächlich war dieses Mehr an Schlaf für die Jugendlichen von Vorteil. Verglichen mit einer Kontrollgruppe erbrachten sie bessere Leistungen, zeigten mehr Einsatz und schwänzten seltener den Unterricht.

Am städtischen Gymnasium in Alsdorf bei Aachen wurde in diesem Jahr ebenfalls ein neues Zeitmodell für den Unterricht in der Oberstufe eingeführt. Danach bleibt es den Schülerinnen und Schülern selbst überlassen, ob sie bereits zur ersten Stunde um acht Uhr kommen wollen oder erst zur zweiten um neun Uhr. Allerdings ist die erste Stunde keine typische Freistunde, sondern eine sogenannte Dalton-Stunde, die von den Schülerinnen und Schülern in eigener Verantwortung gestaltet wird. »Sie lesen dabei in Schulbüchern, recherchieren im Internet, beratschlagen sich mit Mitschülern oder fragen verschiedene Lehrer«, erklärte Wilfried Bock, der Leiter des Gymnasiums, in einem »Spiegel«-Interview. »So führen nicht die Lehrer durch ihre Fragen zu den Lerninhalten, sondern die Schüler erfragen sich den Stoff selbst.« Wer dagegen morgens lieber etwas länger schlafen wolle, müsse die versäumten Lerninhalte in einer Freistunde nachholen, so Bock weiter: »Erst ab der zweiten Stunde gibt es Unterricht mit Anwesenheitspflicht.«

Wissenschaftlich begleitet wird das Alsdorfer Projekt von Till Roenneberg, der unter anderem herausfinden möchte, wie sich die flexible Gestaltung des Unterrichtsbeginns auf das Schlafverhalten der Schülerinnen und Schüler auswirkt. Derzeit läuft unter seiner Leitung die Auswertung der in den letzten Monaten erhobenen Daten. Erste Ergebnisse werden im Sommer erwartet.

Obwohl viele Gründe dafür sprechen, den Unterricht hierzulande etwas später beginnen zu lassen, stoßen entsprechende Forderungen häufig auf herbe Ablehnung. Vor allem in der Lehrerschaft. Christoph Randler hat dafür eine Erklärung: »Im Schnitt zählen die Lehrer zu den ›Lerchen‹.« Berufstätige Eltern wiederum befürchten, dass sie ihre Kinder um neun Uhr morgens nicht mehr selbst zur Schule bringen könnten. Andere halten eine Ausweitung des Nachmittagsunterrichts für unzumutbar. Dadurch würden viele Schülerinnen und Schüler zu stark belastet und fänden nicht genügend Zeit, sich zu erholen. Auch wenn das Beispiel der Ganztagsschulen solche Befürchtungen eher grundlos erscheinen lässt, ist eines offenkundig: Eine neue Zeitstruktur des Schulunterrichts erfordert neue Arbeitszeitmodelle im Berufsleben. Stichwort Gleitzeit. Hier gibt es in Deutschland nach wie vor erhebliche Reserven.

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