Wer liest heute noch Tolstoi?

»Musik statt Krieg«: Tino Eisbrenner lädt zur Völkerverständigung ins Russische Haus

  • Mathias Schulze
  • Lesedauer: 4 Min.

Auch wenn er in den letzten 30 Jahren gelegentlich »Barfuß in Kakteen« ging, überwiegt die Zuversicht. Bekenntnisse auf dem gleichnamigen aktuellen Tino-Eisbrenner-Album, im schönen »Immerhin« heißt es: »Prächtige Schiffe mit Swimmingpool/ fahr’n immer mal wieder vorbei/ Kursänderung ist nicht vorgesehn/ Und man fragt sich von fern/ Ob ich glücklich sei.« Eine Antwort gibt es, in Form eines Gebetes zum Himmel, auch morgen noch übersehen zu werden: »Denn immerhin hab ich auch dich gefunden/ Und immer noch bist du hier./ Und immerfort heilst du meine Wunden/ Auf immer verschworen mit mir.«

Seine existenzbereichernde Nische hat Eisbrenner, geboren 1962 in Rüdersdorf bei Berlin, als Weltenbummler gefunden. Eine intensive vierzehnte Platte, chilenische Musiker und lateinamerikanische Spielarten begleiten seine Poesie. Der Kompass zeigt ins Offene, akustische Essenzen. Wird die Erde zu schwer, erweitert Eisbrenner seinen eigenen Horizont. So war es, so bleibt es. Auch wenn es schmerzhaft wird, großartige Zeilen im Lied »Das Licht Deiner Worte«: »Das Licht deiner Worte tut weh/ Es strahlt nicht auf das, was ich seh.« Rückblicke, die Erkenntnisse und Haltungen beheimaten.

Eisbrenner bringt sie auch im Interview auf den Punkt: »In meiner Kindheit, von 1970 bis 1973, habe ich in Bulgarien gelebt, meine Eltern haben dort gearbeitet. Das war eine ganz wichtige Erfahrung, damals lernte ich Schreiben und Lesen. In Bulgarien fing ich an, ein bewusster Mensch zu werden, dort spürte ich eine russlandfreundliche Gesinnung, die mir bis jetzt eigen ist. Bulgarien hingegen bekommt nun einen NATO-Stützpunkt.«

Der Westen, der sich gnadenlos gen Osten erweitert. Eisbrenner, der momentan auch mit Heines »Deutschland. Ein Wintermärchen« auf Konzertlesereise ist, kennt den Kalten Krieg. Für eine schwarz-weiße Frontrhetorik, für ideologische Scharmützel ist er nicht zu haben, für humanistische Werte schon. Während seiner »Musik statt Krieg-Tour - Zum Beispiel Russland« ist er, selbst mit einer Halbrussin verheiratet, Gast- und Ideengeber: »Was sollen diese holzschnittartigen Diskussionen? Warum soll ich heute Russland als Feind betrachten? Warum arbeitet ein Großteil der medialen Berichterstattung daran, dass unser Russlandbild sich auf Putin reduziert? Was wird unseren Kindern heute noch über Russland vermittelt? Wer liest heute noch Aitmatow, Dostojewski, Tolstoi oder Puschkin? Die größte Angst haben wir immer vor Fremdem - versucht man, uns Russland fremd werden zu lassen? Ich muss da etwas dagegen stellen.«

Stellt Eisbrenner etwas dagegen, dann gibt er keine vorschnellen Antworten, dann zieht er die Kunst zu Rate, dann baut er Brücken zur Völkerverständigung. So arbeitete er daran, russische Rock- und Bardensongs ins Deutsche zu übersetzen, sie für die Bühne zu arrangieren. Anlässlich der »Musik statt Krieg-Tour«, wie gewohnt wird sie auch diesen Sommer als Festival auf Eisbrenners mecklenburgischen »Vier Winde Hof« einziehen, werden immer wieder Musiker und Schauspieler geladen sein, die die Stammbesetzung um Peter Michailow (Drums), Oliver Siegmann (Bass), Manfred Hennig (Keyboard) und Alejandro Soto Lacoste (Gitarre, Piano, Gesang) ergänzen. In Berlin wird die Liste der Gastkünstler opulent, nur einige sollen genannt werden: die Liedermacher Manfred Maurenbrecher und Frank Viehweg, Schauspieler Gojko Mitic, Sopranistin Dana Hoffmann und ein russisch-ukrainische Folkloreensemble.

Horizonterweiterungen am 78. Geburtstag des russischen Barden Wladimir Wyssozki, kein Zufall natürlich. Eisbrenner erzählt: »Wir verweben russische Songs mit eigenen, aber auch mit englischen, französischen und spanischen Friedensliedern. Wir wollen an russische Kultur erinnern, sie aber keineswegs isolieren, sondern sie in unsere Welt holen. Es soll ein fühlendes Verstehen einsetzen. Machen wir es gut, dann funktioniert es so, wie wenn man einem Westsozialisierten Gerhard Gundermann vorstellt: Das Material wird überzeugen, Ideologie braucht es da gar nicht.«

Wie selbstverständlich wird die Tour auch jüngere Künstler einbinden. Die Leipzigerin Nadine Maria Schmidt, Jahrgang 1980, ist ein Beispiel dafür, wie sich die Impulse der guten, alten Liedermacherei in der Gegenwart fortsetzen. Traditionslinien, die barfuß in Kakteen laufen, Eisbrenner fasst sie so zusammen: »Songpoeten sind wandelnde Reflektoren ihrer Zeit, sie steigen hinab in die Tiefe der Seelen und fördern etwas zutage wie Schmerz, Angst, Zorn. Etwas wie Verstand, Poesie und Liebe. Etwas, das wir Hoffnung nennen.«

25. Januar, 19.30 Uhr, Russisches Haus, Friedrichstr. 176-179, Mitte. Eintritt frei. www.eisbrenner.de

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