Weinen, wo man gar nicht weinen darf

Die Schaubühne führt Milo Raus »Mitleid. Die Geschichte des Maschinegewehrs« auf

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 5 Min.
»Die großartige Ursina Lardi hält einen Monolog, der hinter die Kulissen des Mitleids der Entwicklungsindustrie blicken lässt – aber auch die Rolle des Theaters kritisch hinterfragt.«

Am Ende des Stückes widersetzt sich die Schauspielerin Consolate Sipérius den Anweisungen ihres Regisseurs Milo Rau: Dieser wollte, dass sie mit dem Maschinengewehr in jenes Publikum schießt, das sich am Leid anderer bestenfalls ergötzt, oft genug sogar daran verdient. Sipérius ist Überlebende und damit Zeugin eines Massakers in Burundi, bei dem ihre Eltern starben. Sie selbst wurde von einer belgischen Familie »aus dem Katalog« ausgesucht und adoptiert. Ob als Opfer oder Zeugin: Ihr Platz auf der Bühne, links im Hintergrund, ohne viel zu sagen, ist allein deshalb gerechtfertigt, weil sie den Zuschauer mitfühlen lässt am Schicksal der Armen und Hilfsbedürftigen dieser Welt.

Milo Raus »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« feierte in der Schaubühne Premiere. Das Stück ist größtenteils ein Monolog, die Bühne eine große Müllhalde, der Fantasie des an »Nachrichten« geschulten Blickes wird die Verortung des Schauplatzes überlassen. Eine Reise zu den Zentren der heutigen menschlichen Katastrophen beginnt, entlang der Flüchtlingsrouten, in die Türkei, mit der Fähre nach Griechenland, schließlich nach Zentralafrika, ins kongolesische Bürgerkriegsgebiet. Erzählt wird diese Geschichte von Ursina Lardi.

Es ist aber auch eine Reise in Lardis Vergangenheit als - ja, als was genau? - als Entwicklungshelferin, Friedensdienstleistende oder als Touristin? Sie liefert Beweise, dass alles so stattgefunden hat. Fotos mit ihr als 19-Jährige in Goma. Sie erzählt von ihren Erfahrungen als völlig überfordertes »blutjunges und dummes Mädchen« im Auslandsdienst der »Teachers in Conflict«, einer Nichtregierungsorganisation (NGO). Von dieser wurde sie aufgrund ihrer »Standhaftigkeit« im Auswahlverfahren »rekrutiert«. Sie erzählt, wie sie mit 20 Jahren Workshops für traumatisierte Offiziere anleiten musste, die gerade einen Völkermord begangen hatten und sich nun aussöhnen sollten. Von Freunden und Bekannten, die sie, mit ihrem eigenem Geld, vor dem Tod bewahrte, und die sie Jahre später wiedertraf - im Dienste des Militärs.

Nach und nach kommen Zweifel auf. Nicht an dem Gesagten und Erlebten, dazu sind Lardis Empfindungen auf der Bühne zu fein, zu präzise, ihr Schauspiel zu überzeugend, zu wuchtig, um sie zu hinterfragen. Es ist die Menge des Erlebten, das zu viel für eine Person zu sein scheint. In der Tat speist sich der Monolog nicht nur aus Lardis Erlebnissen, sondern auch aus Milo Raus eigenen Erfahrungen, denen vieler NGO-Mitarbeiter, Geistlicher und Kriegsopfer, die der Regisseur während seiner Arbeit in Zentralafrika interviewt hat.

Lardi nimmt sich ihrer an, verkörpert den ganzen Schmerz, den man bei dieser Arbeit erlebt, die unfassbaren Leiden, die sich beim Anblick von Folter und Massenmord, von Armut, Hunger und Flucht in die Seele ätzen und Nacht für Nacht in Albträumen emporkriechen. Aber auch das Hochgefühl, das sich einstellt bei der Ankunft, wenn man mit 20 denkt, die Welt zu retten und sich dabei von Schwarzen bedienen lässt.

Ursina Lardi ist grandios! Sie fesselt, obwohl sie fast nichts macht, außer am Pult zu stehen und zu erzählen. Sie häutet sich förmlich auf der Bühne, Schicht um Schicht fällt der selbstgerechte Anspruch ab, Gutes zu tun, ihr Mitleid verkommt zu einer herablassenden Haltung. Nach und nach offenbart sich die Eigenheit einer Industrie, die recht gut davon lebt, das Leiden der anderen zu verwalten. Die Frage ist, welche Industrie verkörpert sie gerade - die Entwicklungsindustrie, die Theaterindustrie? Lardi ist sich ihrer Rolle vollkommen bewusst, sie lässt teilhaben an ihrem Erinnerungsprozess, der nur einen Schluss zulässt: »Hier also zu weinen. Das wär’ das allerletzte«, sagt sie. Und während sie das sagt, kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten.

Milo Rau führt mit »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« ein in sein Konzept des »zynischen Humanismus«. Nicht, dass man nicht weinen darf, muss, in Anbetracht des Elends auf der Welt. Nur darf man nicht vergessen: »Ich profitiere von der Ungerechtigkeit der Welt! Ich bin ein Arschloch!«, wie Rau kürzlich in der Schweizer »Sonntagszeitung« schrieb. Das Stück ist somit auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Theater selbst, mit der Rolle des Autors, der Schauspieler und auch der des Publikums. Das Stück fragt, wie es sein kann, dass ein Foto eines toten geflüchteten Jungen im Mittelmeer ganz Europa in Trauer stürzt, während der sich abzeichnende Genozid in Burundi es kalt lässt. Lardi sagt: »Und die Moral: erschieß’ sie, alle! Am Ende kommt es darauf an, wer die Maschinengewehre hat.« Wir alle sind Arschlöcher, unfähig zu helfen.

Zurück zu Consolate Sipérius. Pro- und Epilog hält sie, sitzend, mehr an die Kamera gerichtet als ans Publikum. Opfer und Zeugin ist sie, das reicht im Authentizitätszwang des Theaters für eine Rolle auf der Bühne. Antigone war sie schon, hat die weibliche Hauptrolle in Shakespeares »Romeo und Julia« gespielt. Sie müpft auf gegen Rau. Sie braucht diese Rolle nicht. Sie muss kein Zeugnis ablegen, weder über den Bürgerkrieg noch über ihre Berechtigung, auf der Bühne zu sein. Und ganz sicher hat sie kein Publikum nötig, das anhand ihrer Geschichte Mitleid empfindet.

Sie legt den Zynismus offen, den wir uns angewöhnt haben. Und spielt ihn nicht mit.

Nächste Vorstellungen: 29.-31. Januar

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