Mit allen heiligen Wassern gewaschen

Bari rühmt sich als Stadt mit dem echten Heiligen Nikolaus. Allerdings klaute sie seine Gebeine vor 1000 Jahren in der Türkei, um mit einem Prominenten protzen zu können. Von Stephan Brünjes

  • Stephan Brünjes
  • Lesedauer: 5 Min.

An der Bushaltestelle am Corso Vittorio Emanuele II wacht der Nikolaus übergroß hinter den Wartenden, zwei Finger gespreizt zum Victoryzeichen. Oder doch den Segen spendend? Seine Heiligenbildchen prangen blumenumkränzt über Torbögen in der Altstadt von Bari. Als Pixelpuzzle ist der Nikolaus in einem plakatgroßen Mosaik an der Via Filippo Corridoni verewigt, und - ja - die bei uns in der Vorweihnachtszeit beliebten kletternden Nikoläuse klammern sich auch in Bari an die von Fassaden herunterbaumelnden Lichterkettenlianen. Es ist wie beim Hase-und-Igel-Spiel in der fast schachbrettartig angelegten Altstadt der süditalienischen 300 000-Einwohner-Stadt: Wo immer man in den engen Gassen um die Ecke biegt - der Nikolaus ist schon da, in stets neuen Verkleidungen und Kopien.

Aber wo wohnt nun das Original? Sein Heim, eine romanische Basilika am Rande der Altstadt ist etwas schmucklos, denn sie musste ja fix errichtet werden, damals im Frühjahr 1087, weil Nikolaus so überraschend nach Bari kam. Genauer gesagt, das was von ihm übrig war - seine Gebeine. Per Schiff liefen sie in den Hafen ein, tollkühn entführt aus der Türkei, nahe dem heutigen Badeort Antalya. 62 Kaufleute und Matrosen aus Bari waren dorthin aufgebrochen, weil man in der italienischen Adriastadt schon damals befürchtete, touristisch ins Hintertreffen zu geraten: Venedig lockte zahlungskräftige Pilger mit seinem heiligen Marcus, Salerno mit dem Apostel Matthäus und Genua mit den Gebeinen Johannes, des Täufers. Um ebenfalls reichlich gläubige Übernachtungsgäste anzuziehen, brauchte Bari dringend auch so einen Stadtheiligen, hatte aber - wie die meisten anderen auch - keinen hervorgebracht. Also musste er eben gekidnappt werden - übliche Praxis damals.

Im türkischen Myra angekommen, tarnte sich die Schiffsbesatzung aus Bari als demütige Pilgergruppe, ließ sich das Grab des Bischofs Nikolaus zeigen und hebelte es auf. Zwei Männer verbargen die Gebeine unterm Gewand, zogen mit der ganzen Gruppe unter religiösem Murmelgesang zügig runter zum Schiff und war schon auf offener See, als die düpierten Einwohner Myras wütend am Strand eintrafen. In Bari wurden Nikolaus’ sterbliche Überreste in der Krypta der Basilika gleich gut weggeschlossen, sie ruhen bis heute in einem massiven Behälter mit schmiedeeisernem Kamingitter. Könnte ja sein, dass die Beraubten sich die Gebeine zurückholen wollen. Genau dazu hat die türkische Nikolaus-Stiftung aufgerufen - zuletzt 2003.

Niemals darf das passieren, sagen sie in Bari. Dank Nikolaus ist die Stadt unkündbares Mitglied in der Champions League der Pilgerorte. Denn wer hat schon so einen Universalheiligen mit beispiellos weißer Weste und weltumspannender Beliebtheit? Nikolaus ist Beschützer der Apotheker und Schüler, Fischer und Schiffer, der Diebe, Schnapsbrenner, Parfümhändler, Kerzenzieher und Getreidehändler. Um nur einige zu nennen. Als russischer Nationalheiliger kommt er in der Ostkirche gleich nach dem lieben Gott: »Sollte der mal sterben, machen wir Nikolaus zum Nachfolger«, sagt ein altes slawisches Sprichwort. Schon vor seinem Tode im 4. Jahrhundert nach Christus galt Nikolaus, der Bischof von Myra, als gütiger, mildtätiger Kirchenfürst, rettete angeblich Schiffsbesatzungen aus Seenot, indem er Wellen glättete und bewahrte drei arme Frauen vorm Abrutschen in die Prostitution, indem er nachts Goldklumpen in ihre Wohnung warf.

Darum hält er bis heute drei Kugeln in der Hand, auch auf jedem Bild in Bari, ob in verwitterten Stein gehauen oder in Hauseingängen auf vergilbten Ikonen, deren ewiges Licht von schummrigen Energiesparbirnen gespendet wird. Das passt zum Vintagecharme dieser Stadt: Poröse Fassaden in allen Pastellfarben, die ein Tuschkasten hergibt. Herunterhängende Stromleitungen, verwitterte Fensterläden und dann wieder in wohlig warmem Beige leuchtende Gassen mit grünen und blauen Türen. Mittendrin Frauen in Blümchenkittelschürzen, die auf Holzstühlen sitzend ein Schwätzchen halten. Der Soundtrack dazu schallt aus den Fenstern im zweiten Stock: Eros Ramazotti schmachtet, und eine Mamma faltet lautstark und heiser ihre Kinder zusammen. Der Blick nach oben kann den Ort des Geschehens nicht genau ausmachen und bleibt in einem über der Gasse ausgebreiteten Himmel von trocknenden Hemden, Unterhosen und Handtüchern hängen. So lange, bis in der Gasse eine Vespa heranknattert: Der Mann auf dem Sozius transportiert - mit beiden Händen in die Luft gestemmt - einen Tisch. Baris Altstadt ist authentisches Wohnviertel geblieben - Italia ohne Bella. Immerhin, die Tourizone ist begrenzt auf die Straßen rund um die Basilika. Hier muss San Nicolo für alles herhalten: Als Name an Cafés, Boutiquen und Fischläden, am Nippesstand ist Nikolaus der Monopolist auf Tellern, Tassen und Wimpeln.

Vor gut zehn Jahren wurden Touristen noch von der Polizei eskortiert, nicht nur, weil man Nana Mouskouri in Bari angeblich mal die Handtasche stibitzt hatte. Etwas versteckt erinnert auch noch das Denkmal für den 2001 erschossenen 16-jährigen Michele Fazio an kriminelle Zeiten. Heute kommen Besucher gefahr- und zwanglos ins Gespräch mit den vielen Obst- und Gemüsehändlern oder mit Porzia Petroni. Strahlend steht sie vor ihrem Haus in der Jesuitengasse. Ihr Arbeitswerkzeug ist der erhobene Zeigefinger. Sie arbeitet weder als Lehrerin noch Stadtführerin, sondern Nudelfabrikantin. Wie viele Frauen formt sie mit der Fingerkuppe Orechiette, die sogenannten Öhrchennudeln und erklärt vorbeischlendernden Besuchern gern, wie diese Spezialität aus Bari entsteht. Hat Porzia ihre Arbeit erledigt und den Hartweizengrießteig in Pasta verwandelt, liegt diese auf feinmaschigen Gittern stundenlang vor der Tür zum Trocknen.

Die Farbe der Öhrchennudeln gleicht der des Nikolausgewandes in der Basilika: Im goldgelben Mantel steht dort eine meterhohe Statue. Sie hat einmal im Jahr ihren großen Tag. Nein, nicht am 6. Dezember - da wird nur ein bisschen gefeiert, sondern am 9. Mai, dem Jahrestag des erfolgreich abgeschlossenen Kidnappings des Heiligen. Frühmorgens wird die Nikolausstatue aus der Basilika durch die Stadt getragen, mit goldenem Heiligenschein und Rauschebart. Die Straßen, dekoriert mit quietschbunter Rummelplatzbeleuchtung, sind gesäumt von mehr als 20 000 Schaulustigen. Alte und Kranke erhoffen sich Segnung und Erlösung in dieser Prozession, spätestens beim alljährlichen Highlight. Dann öffnen Kirchenmänner die Tür von Nikolaus’ Krypta, einer kriecht hinein und zapft das Myron ab, ein Wässerchen, das angeblich regelmäßig aus den Gebeinen entweicht. Es ist wohl eher Kondenswasser. Angeblich soll es heilende Wirkung haben, auch in verdünnter Form. Denn bevor das Myron in Fläschchen verkauft wird, wird es noch ein wenig gestreckt. Damit man mehr davon hat, vor allem beim Profit. Sie sind eben immer noch mit allen heiligen Wassern gewaschen, hier in Bari.

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