Das Leben ist zu kurz

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zeiten sind aufregend. Kürzlich telefonierte ich mit meinem 78-jährigen Vater. Wir unterhielten uns zunächst über Belangloses, z.B. darüber, ob ich dem Ansinnen der Versicherung, die unsere Familie seit Menschengedenken - also seit gut 50 Jahren - mit regelmäßigen Beitragszahlungen für eine Unzahl von Policen finanziell bereichert, nachgeben und einen Riester-Vertrag abschließen soll. Schnell wurde uns klar: Das Leben ist zu kurz, um es mit Riestern zu vergeuden. Dann wurde es Ernst: Wir sprachen über das Wetter. Es wurde ein etwas langwieriges Gespräch, an dessen Ende ich den immer gültigen Satz setzte: »Das Wetter spielt verrückt« und mein Vater antwortete: »Wir hatten schon schlimmeres Wetter, wir werden das schaffen!«

Vielleicht aber haben wir auch über Politik im Allgemeinen und die Terroranschläge in Paris vom 13. November im Besonderen gesprochen, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Meist unterhalte ich mich mit meinen Eltern am Telefon ja über das Wetter, aber diesmal …

Um meine Stimmung aufzuhellen, ging ich Alkohol kaufen. Im Spätverkauf gegenüber gibt es die besten bayerischen und fränkischen Biere. Vor dem Laden stand dessen Inhaber - mein Nachbar von Nebenan - und meine Nachbarin aus dem zweiten Stock. Sie mit einer Flasche Bier in der Hand, er zeigte ihr auf seinem Smartphone etwas. Ich stellte mich interessiert dazu. Auf dem Display war ein kleines Häuschen mit Zaun drum herum und einer kleinen Palme im Vorgarten zu sehen. »Das ist mein Haus in Vietnam, das ich für meine Mama gebaut habe«, erklärte mir mein Nachbar stolz.

Dem Manne wurden - regelmäßige Leser dieser Kolumne werden sich erinnern - vor einigen Wochen vor der Wohnungstür niegelnagelneue Schuhe im Wert von mehreren hundert Euro gestohlen. Er ertrug es mit Fassung. Vielleicht hat dieser Gleichmut gegen die Schlechtigkeit der Welt mit irgendeiner asiatischen Ying-und-Yang-Weisheit zu tun, viel eher aber wohl damit, dass mein Nachbar als Kind die Bombardements des US-Militärs in Vietnam mehrfach nur knapp überlebte. Einen Großteil seiner ersten Lebensjahre, erzählte er mir einmal, habe er unter der Erde verbracht, wo seine Familie Schutz vor den Bomben suchte, die fast täglich auf ihr Dorf fielen, das das Pech hatte, an einer strategisch wichtigen Brücke über einen Fluss zu liegen.

Die Mutter meines Nachbarn wohnt noch heute in diesem Dorf. Dort ist es jetzt ruhig, ja, richtig idyllisch, wenn man den Bildern glauben darf, die ich zu sehen bekam. »Bei meiner Mama gibt es keinen Krieg wie hier«, setzte mein Nachbar die Unterhaltung fort. »Vielleicht sollten wir zu Deiner Mama nach Vietnam ziehen«, warf ich ein. Die Nachbarin nahm einen Schluck aus der Bierflasche und nickte zustimmend. »Und unsere Wohnungen hier vermieten wir an Flüchtlinge, dann ist jedem geholfen.«

Das ist wohl wahr: In Vietnam gibt es meines Wissens keinen IS - und von Versicherungen und ihren Riester-Verträgen wird man auch nicht belästigt.

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