Menschenrecht auf Ayranbeleidigung
Andreas Koristka plädiert leidenschaftlich für gesittetere politische Umgangsformen
Andere Länder, andere rechtsstaatliche Missstände - aber was sich Recep Tayyip Erdoğans Türkei gerade geleistet hat, ist wirklich ein Skandal. Der Rapper Ceza hatte Werbung für einen Softdrink mit dem schönen Namen »Didi« gemacht. Was hierzulande einen Richter höchstens zu dem überraschten Ausruf »Palim, palim!« verleitet hätte, führte in der Türkei zu juristischen Konsequenzen. Denn laut der türkischen Tageszeitung »Hürriyet« rappte Ceza in dem Werbespot: »Ich habe Ayran probiert, das machte mich müde.«
Zugegeben, für mitteleuropäische Ohren klingt das vergleichsweise harmlos, aber Präsident Erdoğan konnte es nicht auf sich sitzen lassen. Denn er selbst hatte im Jahr 2013 per Gesetz Ayran zum türkischen »Nationalgetränk« erklärt, welches den Türken die Kraft gegeben hatte, den Völkermord an den Armeniern zu begehen … äh, Quatsch … nicht zu begehen natürlich. Wegen der Verunglimpfung des Tranks aus Joghurt, Wasser und Salz muss der Hersteller von »Didi« nun eine Strafe in Höhe von 70 000 Euro zahlen, was ein weiterer Beweis für die Zensur der Medien in der Türkei ist.
Wie gut, dass in Deutschland der Rechtsstaat noch intakt ist und wir ob seiner Existenz rund um die Uhr frohlocken können. Wer möchte schon in einem Land leben, in dem Lebensmittel nicht mehr öffentlich beleidigt werden dürfen? Doch im Alltag machen wir von diesem Recht leider viel zu selten Gebrauch. Warum sagen wir nicht öfter, dass Weißkohleintopf das schlimmste Gericht der deutschen Küche ist seit der Arbeitsstullen von Joseph Goebbels, die er sich von seiner Frau Magda mit Zungenwurst und den Schamhaaren des Führers belegen ließ? Warum wird so selten Kartoffelsalat beleidigt, diese in Mayonnaise gebadete Ausgeburt der Widerwärtigkeit - dieser ekelhaften Schäbigkeit, die ihresgleichen sucht? Und was verdammt ist mit den merkwürdigen Eissorten, die es in den Innenstädten neuerdings gibt? Ein Sorbet aus Himbeeren und veganer Leberwurst ist jedenfalls ein größeres Verbrechen als die WM-Vergabe an Katar und die an Deutschland zusammengenommen.
Es gäbe noch viele Gerichte, die es lohnen würde zu beleidigen, egal ob sie »Gummibärchen« oder »Geröstetes Schweinshirn mit Ei« heißen. Wahrscheinlich brauchen wir erst eine restriktive Politik wie in der Türkei, um den Umstand genügend schätzen können, dass wir in der Lage sind, dies auch zu tun. Der Rapper Ceza jedenfalls hätte bestimmt Lust, nach Deutschland zu kommen, um hier die Meinungsfreiheit zu genießen und sein Werk erfolgreich fortzusetzen. Zumal es im Hip Hop ja auch die Unsitte der Beleidigung von Müttern gibt. Wie viel schöner wäre es doch, wenn man sich lediglich auf das Beleidigen ihrer Kochkünste beschränkte. »Sohn einer wenig salzenden Köchin« wäre solch ein Diss, der jedem klarmachte, dass es sich beim so Bezeichneten um einen whacken Kollegen handelt, der zwar vielleicht big im game ist, aber auf die Freuden einer schmackhaften und tighten Hausmannskost verzichten muss.
Wenn sich das durchsetzen sollte, wird es nicht nur die Umgangsformen im Hip Hop revolutionieren, sondern auch die in der Politik. Dann wird der rüde Ton, der zuweilen im Bundestag herrscht, ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Man stelle sich nur vor, Joschka Fischer hätte statt seines legendärer Ausspruchs »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch« folgendes gesagt: »Mit Verlaub, Herr Präsident, aber der Nudelauflauf Ihrer Mutter ist eine einzige Katastrophe, die man kaum herunter bekommt, die Buletten meiner Mutter hingegen sind köstlich, weshalb ich bald fünfmal so fett sein werde wie Sie!«
Das entspräche doch viel eher den Umgangsformen, die einer gesitteten Demokratie wie der unseren angemessen wären. Man darf also gespannt sein, was Thomas de Maizière bald über die Senfeier von Angela Merkels Mutter zu berichten hat.
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