Waldlager der sowjetischen Soldaten
Archäologen erforschen den zeitweiligen Verbleib der Rotarmisten nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus
Sie kämpften sich westwärts bis Berlin. Doch wo blieben die vielen Tausend Sowjetsoldaten unmittelbar nach der Zerschlagung des Hitlerregimes im Frühjahr 1945? Dieser Frage gehen 70 Jahre nach Kriegsende Archäologen und Historiker nach. Die Rotarmisten zogen sich zum Beispiel in die Wälder rund um Berlin zurück, bis sie in alte deutsche Kasernen übersiedelten.
»Bei Grabungen wurden Hinterlassenschaften der Roten Armee gefunden«, sagt Thomas Kersting vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege. Der Archäologe berichtet von Funden vor allem im westlichen und nördlichen Brandenburg. »Etwa 50 Fundstellen sind bekannt«, sagt er. Dort standen einst Hunderte Blockhäuser, in denen die Soldaten lebten. Vertiefungen im Wald deuten auf die Bauten hin, die 1945 von Soldaten aufgestellt worden sind. »Wir vermuten, dass sie sich dort bis Herbst/Winter 1945 aufgehalten haben, ehe sie in noch vorhandene Kasernen eingezogen sind«, sagt der Archäologe. Die Holzhäuser gebe es nicht mehr. Das Holz habe sich wahrscheinlich die Dorfbevölkerung aus der Umgebung im Winter zum Heizen geholt.
Bei Grabungen an zwei Stellen seien beispielsweise Werkzeuge, Schilder mit Propagandatexten und alte sowjetische Abzeichen gefunden worden. »Auch Dinge aus dem zivilen Alltag der Soldaten haben wir entdeckt, wie Uhrenteile, Rasier- und Feuerzeug, Schmuck«, schildert Kersting. Darunter waren auch Gegenstände, die die Soldaten offenbar deutschen Zivilisten abgenommen hatten. In der Erde lagen außerdem Gürtelschnallen der Wehrmacht, die mit sowjetischen Symbolen überprägt wurden. Dass die Funde aus der Zeit kurz nach der Befreiung vom Faschismus stammen, belegen deutsche, polnische und auch wenige sowjetische Münzen. Sie tragen Prägemarken aus den 1930er und 1940er Jahren, wie Kersting berichtet. Ein kyrillisch beschriftetes Schild weist das Datum 22. April 1945 auf.
Warum ist die Forschung erst jetzt darauf aufmerksam geworden? »Es war wahrscheinlich keinem klar, dass das archäologisch und landesgeschichtlich von Interesse sein könnte«, sucht der Archäologe nach einer Deutung. Hobbyarchäologen hatten Waldlager entdeckt und das Landesamt eingeschaltet. »Sie sind vom Amt geschult und mit offenen Augen in Brandenburg unterwegs.«
Der Hobbyhistoriker Klaus Stieger aus Müncheberg stieß bei Streifzügen auf ein Waldlager. Der 67-Jährige kennt die Gegend rund 30 Kilometer östlich von Berlin in- und auswendig, weil er hier seit 50 Jahren Pilze sucht. Die Soldaten seien dort offensichtlich auf ihren Rückmarsch vorbereitet worden. »Erst kamen sie vom Ural bis Berlin zu Fuß, dann mussten sie zurücklaufen«, sagt Stieger. Nach der Wende half er mit, den 1865 gegründeten Verein für Heimatgeschichte neu zu beleben und leitete ihn 15 Jahre.
Zu den Waldlagern ist schriftliches Material bisher nicht bekannt. »Historisch wissen wir dazu kaum etwas«, sagt Archäologe Kersting. Befehle oder Unterlagen zu diesen Waldlagern der Roten Armee müsste es aber gegeben haben.
Stieger betont: »Es gibt keine für uns einsehbaren Unterlagen.« Er befragte Zeitzeugen zu dem Waldlager in der Nähe von Müncheberg. Sie berichteten von mindestens 20 000 Soldaten, die sich dort vorübergehend niedergelassen hatten. »Die Soldaten hausten in Erdbunkern teilweise mit elektrischem Licht, Offiziere hatten massive Bauten«, sagt Stieger. Wahrscheinlich standen auf dem freien Gelände auch Zelte und Baracken.
Die bei den Grabungen entdeckten Fundstücke sollen in einer Ausstellung gezeigt werden. Sie ist von Mitte März bis Ende Juni 2016 im Landesmuseum Paulikloster in Brandenburg/Havel geplant. dpa
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