»Es gibt Dinge, die werde ich nie verstehen«

Inge Deutschkron über den 9. November 1938, fehlende Aufklärung, brennende Synagogen und Asylbewerberheime

  • Lesedauer: 10 Min.

Frau Deutschkron, es freut mich, dass es noch geklappt hat, Sie uns ein Gespräch gewähren.
Ich hoffe, meine Stimme versagt nicht. Ich bin erkältet.

Ja, es ist kalt geworden in Deutschland - vor allem immer wieder montags. Macht Ihnen das heutige Deutschland Angst?
Es bereitet mir Sorgen. Aber nicht erst seit heute oder gestern, sondern schon viel länger. Schon die junge Bundesrepublik hat mich beunruhigt. Es war kaum ernstes Bestreben erkennbar, sich der Vergangenheit zu stellen. Es fehlte jedes Interesse an einer wahrhaftigen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, eigener Schuld und Mitschuld. Man legte einen Blumenstrauß an irgendeinem Denkmal nieder und glaubte, damit seine Pflicht getan zu haben. Man versuchte, die Vergangenheit zu verdrängen. Die alten Nazis waren bald wieder in Amt und Würden. Es ist vieles unterlassen worden, was hätte getan werden müssen, notwendig gewesen wäre. Und deshalb ist auch heute noch nicht alles gut in diesem Land.

Inge Deutschkron

Inge Deutschkron, geboren 1922 in Finsterwalde, arbeitete 1941 bis 1943 in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt in Berlin-Mitte, der zahlreichen Juden Schutz vor der Deportation bot und posthum von Israel als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wurde. Bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 lebte Inge Deutschkron mit ihrer Mutter Ella in zehn verschiedenen Verstecken als »U-Boot«, wie die vor der NS-Verfolgung untergetauchten Juden genannt wurden. 1945/46 war sie Sekretärin in der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone, anschließend übersiedelte sie zum Vater nach England, wo sie studierte und im Londoner Büro der Sozialistischen Internationale arbeite. Ab 1956 lebte und arbeitete sie als Korrespondentin der israelischen Tageszeitung »Maariw« in Bonn. 1972 zog sie nach Tel Aviv, erst seit 2001 hat sie ihren festen Wohnsitz wieder in Berlin. Nach ihrer Autobiografie »Ich trug den gelben Stern« (1978) entstand das Theaterstück »Ab heute heißt Du Sara«. 2006 gründete Inge Deutschkron die nach ihr benannte Stiftung, die insbesondere der jüngeren Generation Kenntnisse über den Faschismus vermitteln will. 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag die Rede zum Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes. Mit der Schriftstellerin sprach Karlen Vesper.

Man erwartete, dass Sie, ehemals verfolgte Jüdin, verzeihen?!
Hundertmal habe ich das gehört bei Interviews mit Ministern und anderen hochrangigen Beamten: »Sie müssen doch vergeben können. Das ist doch schon so lange her.« Das war sehr schwer zu ertragen. Meine Eltern und ich überlebten als einzige von unserer Familie den mörderischen Rassismus der Nazis. Deshalb bedrückt es mich auch sehr, welcher Hass heute den Flüchtlingen entgegenschlägt. Das ist doch ganz fürchterlich! Und völlig unverständlich.

Sie können sich nicht erklären, woher dieser Hass kommt?
Man hat Jahrzehnte verschlafen, nicht über das überhöhte Selbstbildnis der »Herrenmenschen« sprechen wollen, das ganz normale Deutsche zu Unmenschen werden ließ und die Verbrechen erst ermöglichte.

Vor 50 Jahren ergingen die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozess, den Sie als Journalistin erlebten. Markierte dieser nicht eine Zäsur im öffentlichen Bewusstsein?
Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Viele käuten die ewige Entschuldigung wider: »Das haben wir nicht gewusst.« Manche waren auch ehrlich entsetzt über die zu Tage geförderten Verbrechen: »Um Gottes Willen ...« Aber das Gros der Deutschen hat sich nicht sehr interessiert. Das war beim Eichmann-Prozess zuvor anders. Als das Todesurteil an ihn in Israel 1962 vollstreckt war, sagte man: »Nun gut, jetzt haben sie ihn erhängt. Das ist erledigt. Wir sind den Schuldigen los.« Man glaubte sich damit selbst entschuldet. Im Auschwitz-Prozess aber saßen nicht nur SS-Männer auf der Anklagebank, sondern ein Teil des deutschen Volkes.

In jüngster Zeit ist aber doch viel für die Erinnerung an die Opfer der Hitlerdiktatur und Entlarvung der Täter getan worden. Wie kann es sein, dass trotzdem wieder Hakenkreuz-Symbole auftauchen und Hetzparolen gegen Juden, Sinti und Roma, Ausländer zu hören sind?
Es werden sogar auf Schulhöfen wieder jüdische Kinder angepöbelt. Das ist doch grauenhaft! Woher das kommt? Weil man eben noch nicht genügend aufgeklärt hat, was Faschismus und Rassismus bedeutet. Die Pflicht der Aufklärung ist eine immerwährende.

Würden Sie sich einen verordneten Antifaschismus wünschen, wie es ihn nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone wie auch in den Westzonen gab?
Nein. Es ist vollkommen irrsinnig, zu glauben, man könne Denken verordnen. Es hat auch in der DDR nicht funktioniert. Es genügte nicht, Antifaschismus zur Staatsdoktrin zu erklären und gleichzeitig zu verschweigen, wie es deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern erging. Oder was Stalin seinem eigenen Volk angetan hat.

Ich gehöre einer Partei an, für die der 8. Mai 1945 selbstredend eine Befreiung war. Es war beachtlich, als dann auch ein Christdemokrat von Befreiung sprach. Wir freuten uns über die großartige Rede von Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Aber vielleicht freut man sich manchmal zu früh.

Es ist aber großartig, wie viele Deutsche sich den Parolen von NPD, Pegida und AfD, Antisemitismus und Antiziganismus entgegenstellen, selbstlos Flüchtlingen helfen.
Das ist schon richtig. Und das ist auch der große Unterschied zur Weimarer Republik, als sich viel zu wenige Deutsche für die Verteidigung der Demokratie eingesetzt haben. Dennoch bin ich besorgt. Die Mehrheit der Deutschen scheint mir doch zu sehr schweigender Beobachter zu sein.

Ihre Eltern waren in der NS-Zeit doppelt gefährdet - als Juden und Sozialisten. Und sie waren doch gewiss bei den Roten Falken?
Selbstverständlich. Ich singe noch heute unsere Lieder (lacht).

Es hieß übrigens auch noch in der Nachkriegszeit: »Die Jüdin ...« Dabei war ich nicht einmal Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Mein Vater wurde im April 1933 als SPD-Mitglied wegen »politischer Unzuverlässigkeit« nach dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus dem Schuldienst entlassen. In der Folge trafen auch uns alle antisemitischen Verordnungen. Obwohl wir uns nicht als Juden verstanden.

Als Teenagerin waren Sie aber so frei und so mutig, die Restriktionen zu ignorieren.
Obwohl es Juden verboten war, ging ich ins Kino und Theater. Ich musste einfach raus aus der Atmosphäre der Verfolgung und Unterdrückung.

Und Ihre Mutter ermunterte Sie?
»Lass dir nichts gefallen, wehre dich«, sagte sie zu mir. Das war der beste Rat, den sie mir mitgegeben hat. An diesen habe ich mich immer gehalten und halte ich mich auch heute.

Und deshalb werden Sie auch Deutschland nicht wieder verlassen, obwohl es kälter und unwirtlicher geworden ist?
Ach wissen Sie, wenn man 93 Jahre als ist, dann ist das schon ein bisschen schwieriger. Ich würde gerne, aber wüsste auch nicht wohin. Oder kennen Sie ein Land, das freundlicher und friedvoller ist?

Als Sie nach Israel übersiedelten, waren Sie beeindruckt von der dortigen Offenheit, Multikulturalität.
So war es. Ich kehrte dann nach Deutschland wegen eines Theaterprojekts zurück. Meine Erinnerungen sollten auf die Bühne gebracht werden. Ich habe Stunden mit den jungen Schauspielern vom GRIPS-Theater verbracht, sie fragten mich regelrecht aus, bis spät in die Nacht diskutierten wir. Es war ganz offensichtlich: Sie hatten keine Ahnung. Mit ihnen ist weder in der Schule noch im Elternhaus über die NS-Zeit gesprochen worden. Das war 1988. Leider wissen Jugendliche auch heute noch zu wenig. Das macht sie anfällig für die Rattenfänger, für falsche Selbst- und Feindbilder, für blinden Hass. Ich erschrak, als der ... Wie heißt doch dieser Knabe, der Justizminister Heiko Maas mit Goebbels verglich?

Bachmann.
Komisch, das ist eigentlich ein jüdischer Name (lacht).

Zwanzig Deutsche halfen Ihnen und Ihrer Mutter zu überleben. Hatten Sie später noch Kontakt zu jenen?
Aber selbstverständlich! Wann immer ich nach Berlin kam, suchte ich sie auf, vor allem die Familie Gumz, die eine Wäscherei betrieb. Wunderbare Menschen. Das waren die wahren Helden Deutschlands. Sie riskierten ihr Leben.

Sie lebten in zehn Verstecken …
Zuletzt in Potsdam, in einem ehemaligen Ziegenstall. Auch das waren mutige Menschen, die uns aufgenommen haben, ohne Fragen zu stellen. Sie gaben uns den Namen »Richter« und erzählten neugierigen Nachbarn, wir seien aus Guben und total ausgebombt, besäßen nur die Kleider, die wir am Leib trugen. Da brachte man uns Wäsche und sogar Möbelstücke. Das war für uns wie ein Wunder. Nach dem Krieg hat sich meine Mutter immer geschämt, wenn sie an all diese Leute dachte, die wir und unsere »Stillen Helfer« belogen haben. Eigenartig, nicht wahr?

Heutige Flüchtlinge haben oft auch nicht mehr als die Kleider am Leib.
So ist es. Und mir ist es ein Rätsel, wie sie Tausende von Kilometern zu Fuß zurücklegen, über lange Wegstrecken ohne Essen und Trinken. Eine übermenschliche Leistung. Es gehört sich, sie menschlich zu empfangen und nicht kaltherzig abzuweisen. Sie kommen doch nicht aus Jux zu uns, sondern aus Not und Verzweiflung, auf der Flucht vor Krieg und Armut. Da mögen manche hier sagen: »Ja, aber daran sind wir doch nicht schuld.« Aber es sind doch Menschen! Jeder Mensch hat nur ein Leben. Und ein Recht auf ein gutes Leben. Außerdem hat der Westen sehr wohl eine Mitschuld an dem Elend. Das Erbe des Kolonialismus lastet z. B. noch immer schwer auf Afrika.

Ihr Vater ist im April 1939 nach Großbritannien geflüchtet, wollte Sie und Ihre Mutter nachholen, was nicht glückte. Nach 1945 kehrte er nicht nach Deutschland zurück?
Nein. Er hatte die hehre Idee, dass man ihn rufen würde. Er war ein bekannter Pädagoge und überzeugt, dass er gebraucht würde. Aber es kam kein Brief aus Berlin. Es war traurig zu sehen, wie er täglich voller Erwartung zum Briefkasten ging und enttäuscht zurückkam. Ich lebte eine Zeit lang bei ihm in Birmingham.

Ihr Vater lehrte an englischen Schulen Deutsch, die Sprache der Täter.
Das lässt sich psychologisch erklären: Mein Vater bewahrte sich derart ein Stück von der Heimat, die er verloren hat und die ihn nicht wiederhaben wollte. Obwohl seine gesamte Familie, vier Geschwister mit Kindern in Deutschland umgebracht worden sind, war es doch das Land, in dem er geboren ist, in dem er sich politisch engagiert hatte, das er liebte, an dem er hing. Trotz allem.

Wie erlebten Sie die Pogromnacht?
Den 10. November 1938 werde ich nie vergessen. In der Nacht hatten SA-Männer ihr wüstes Zerstörungswerk vollbracht. Auf dem Kurfürstendamm lagen zerschlagene Schaufensterpuppen inmitten von Glasscherben. In den Geschäften waren die Regale umgeworfen. Dicke Rauchschwaden hingen über der Fasanenstraße, wo die Synagoge stand. Es soll sich »spontane Volkswut« entladen haben, hieß es. Als »Vergeltung« für den »feigen Anschlag« eines 17-jährigen Polen namens Herschel Grynszpan auf den deutschen Gesandten Ernst von Rath in Paris. Freundinnen meiner Mutter riefen aufgeregt bei uns an: »Mein Mann ist eben abgeholt worden, ich weiß gar nicht warum und wo er jetzt ist.«

Dann klingelte auch bei uns die Gestapo: »Wo ist ihr Mann?« Meine Mutter erwiderte, sie wisse es nicht. Vater war im Theodor-Herzl-Gymnasium. An einer jüdischen Schule durfte er noch unterrichten. Die Gestapo befahl meiner Mutter, ihm auszurichten, er soll sich umgehend auf dem Polizeirevier melden. Als Vater spät abends nach Hause kam, wollte er das tun. Doch Mutter entschied: »Das machst du nicht, Martin!« Sie rief Dr. Otto Ostrowski an. Den Namen kennen Sie?

Ja, 1946 Berlins Oberbürgermeister und im Folgejahr von der eigenen Fraktion gestürzt, weil er zu eng mit SED und SMAD kooperierte.
Er war schwierig, dirigierte gern. Aber er war dennoch ein großartiger Mensch. Er kam zu uns und sagte: »Kommen Sie Deutschkron, ich verstecke Sie!« Und zu meiner Mutter und mir: »Auch ihr beide kommt mit.« Später erfuhren wir, dass die Gestapo tatsächlich noch einmal zurückgekehrt ist und sich nach uns erkundigt hat. Ohne Ostrowski hätten wir vielleicht gar nicht die Kraft gehabt, das Überleben zu wagen. Ach, was war das für eine aufregende Zeit.

Und nichts ist vergessen.
Nichts! Das kann man nicht vergessen. Das ist ausgeschlossen.

Günter Pappenheim, ehemaliger Buchenwalder, erzählte mir, er sei vor Schreck erstarrt, als er im Fernsehen die Schilder sah, auf denen Frau Merkel und Herrn Gabriel mit dem Galgen gedroht wurde. Das erinnerte ihn an SA-Gegröl vor seinem Elternhaus: »Die rote Judensau Pappenheim wird hängen.« Sein Vater Ludwig war ein bekannter SPD-Politiker, er wurde 1934 in Haft »auf der Flucht erschossen«.
Ja, das sagten die Nazis zu heimtückischem Mord. Auch Dr. Ostrowski war kurzzeitig verhaftet. Ich lauschte als Kind an der Tür, als er meinen Eltern erzählte, wie er in der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße gefoltert worden ist. Das machte mir Angst. Ich konnte abends nicht einschlafen, weil ich plötzlich Stiefel auf der Treppe hörte und fürchtete, jetzt holen sie meinen Vater.

Damals brannten Synagogen, heute Asylbewerberheime …
Wie können Menschen so etwas tun? Das war mir damals unbegreiflich und ist es auch heute. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie Frauen, Männer und Kinder am Bahnhof Grunewald in die Waggons gestopft wurden. Dann kam ein junger deutscher Soldat und schob einen dicken eisernen Riegel vor die Tür, damit keiner der armen Menschen während der Deportation in den Tod flieht. Was ging im Kopf des Jungen damals vor? Was hat er sich dabei gedacht? Es gibt Dinge, die werde ich nie verstehen.

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