»Wer Spuren so sichtbar machen kann …«

Leon Weliczker und Günter Kunert

  • Ingrid Pietrzynski
  • Lesedauer: 3 Min.

Sein erschütterndes Tagebuch »Brygada smierci - Die Todesbrigade« (1946) über das sogenannte »Enterdungskommando« im berüchtigten Lemberger Ghetto machte ihn bekannt. Als Jugendlicher hat der vor nunmehr 90 Jahren geborene Leon Weliczker dort unvorstellbares Grauen erlebt. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ebenso wie im folgenden Einsatzgruppen-Prozess spielte sein authentisches Zeitzeugnis eine Rolle.

1958 erschien »Die Todesbrigade« in der DDR. »Die Welt wissen zu lassen, was geschah«, wurde zum Lebensthema des Ingenieurs Weliczker. 1961 ist der 1949 in die USA Ausgewanderte und 2009 dort Verstorbene Zeuge im Eichmann-Prozess in Israel gewesen.

Spuren sichtbar zu machen, ist auch ein Impetus des literarischen Schaffens von Günter Kunert (*1929). Er hat Weliczker mehrfach gewürdigt oder dessen Bericht in eigenen Werken verarbeitet. So gestaltete er in den 1950er Jahren eine Erzählung für den DDR-Hörfunk, »Die Steine werden reden«, nach Motiven der »Todesbrigade«. Mit »Person« widmete er Weliczker 1972 ein Gedicht. Darin ging er auf weitere Lebensstationen des Juden ein, die dieser in seiner Lebensbeschreibung »Ein Sohn Hiobs« dargestellt hat. In der DDR wurde sie nicht veröffentlicht.

Lag es daran, dass Weliczker das sowjetische Vorgehen in Ostgalizien nach dem Hitler-Stalin-Pakt im Herbst 1939 geschildert hat? Einschließlich der Deportierung von polnischen und jüdischen Einwohnern nach Sibirien. Die meisten von ihnen überlebten jedoch - anders als die Opfer des von Deutschen errichteten Ghettos - und konnten nach dem Krieg zurückkehren. Ebenso wenig hat Weliczker polnischen und ukrainischen Antisemitismus in der Vielvölkerstadt, Kollaboration, Denunziationen oder gewitzte jüdische Überlebensstrategien verschwiegen. Den heutzutage in der Ukraine als Nationalheld gefeierten Bandera charakterisierte er als Mörder: »Vor den Banderowcy fürchteten sich die Juden noch mehr als vor den SS-Leuten.« Die Befreiung durch die Rote Armee Mitte 1944 war Weliczkers Rettung. Zuvor war er aus der Todesbrigade geflohen und von einem polnischen Bauern versteckt worden. Das geschundene Lemberg wurde nach dem Krieg als Lwiw in die sowjetische Westukraine eingegliedert, die ursprüngliche Bevölkerung ausgesiedelt.

In seinen 1997 publizierten Memoiren erwähnte Kunert Weliczkers Zeitzeugnis ein weiteres Mal, als Teil seiner »Schreckensbibliothek«, in der enthalten sei, »was an den Schandplätzen Menschen von Menschen angetan worden ist«.

Spuren einer nahezu lebenslangen, bemerkenswerten Würdigung eines Juden aus Lemberg, dem Kunert vermutlich nie persönlich begegnet ist. Das alles ist nachzulesen oder im Internet zu recherchieren. Was aber kaum bekannt ist: 1960 entwickelte der Schriftsteller ein Opernexposé, das er mit dem ihm durch viele gemeinsame erfolgreiche Werke verbundenen Komponisten Kurt Schwaen (1909-2007) verwirklichen wollte. Es kam nicht dazu. Die Hauptfigur in dem Entwurf, ein Pole, der in Westdeutschland auf den Vernichter seines Heimatdorfes trifft, nannte Kunert Leon Weliczker.

Leon Weliczker: Die Todesbrigade. In: Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Vorwort: Arnold Zweig, Berlin: Rütten & Loening 1958. Leon Weliczker Wells: Ein Sohn Hiobs, München: Carl Hanser Verlag 1963. Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen, München: Carl Hanser Verlag 1997.

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