Tödliches Räuber- und Gendarm-Spiel in Bostons Unterwelt
Scott Cooper erzählt vom Aufstieg James »Whitey« Bulgers als Drama im »Pate«-Stil
Mit »Crazy Heart« schrieb der einstige Schauspieler Scott Cooper (Austin Powers) Jeff Briges eine Oscar-Rolle auf den Leib. In »Auge um Auge« schickte er Christian Bale als rechtschaffender Bruder eines Kriminellen durch die kleinstadtidylle. Beim Filmfestival von Venedig stellte er »Black Mass« mit Johnny Depp als Bostons einstigen Unterweltkönig James »Whitey« Bulger vor. Dessen Aufstieg in den 1970ern förderte das FBI, um die italienische Mafia zu zerschlagen.
Wie sind sie auf die Geschichte von James »Whitey« Bulger gestoßen?
Nachdem er aufgeflogen war und untertauchte, konnte keiner den Schlagzeilen entfliehen. Als er schließlich 2011 geschnappt wurde, rutschte mir das Herz ein wenig in Hose. Er lebte nicht weit von mir in der Nähe von Los Angeles.
Was macht seine Geschichte erzählenswert?
Die Familien- und Freundesbande. Ein paar Kids von der Straße spielten ihr Leben lang Räuber und Gendarm. Nur die Grenzen verschwanden. Ich kenne keinen Verbrecher, dessen Bruder zu den einflussreichsten Politikern einer Stadt gehörte. Und keinen, dessen Aufstieg von einem Buddelkasten-Freund wie John Connolly begünstigt wurde, der Bulgers Verbrechen beim FBI deckte.
War seine Karriere nicht auch für die Bundespolizei eine Blamage?
Es ist der größte Skandal in der Geschichte des FBI. Ohne Informanten kann er nicht operieren. Darüber mache ich mir keine Illusion. Aber es ist oft nur ein schmaler Grat zwischen Kontakten, Korruption und Begünstigung.
Haben Sie Bulger im Gefängnis getroffen?
Er hatte kein Interesse an einem Gespräch mit Johnny Depp oder mir. Wir haben deshalb für den Film mit Menschen zusammen gearbeitet, die ihn gut kannten, um herauszukriegen, wie er tickte. Er war wie ein Chamäleon, der sich gegenüber dem FBI völlig anders gab als in seiner Gang.
Was sprach für Johnny Depp?
Ich verpflichte gerne Schauspieler für Rollen, mit denen sie künstlerisch Neuland betreten und eine andere Seite ihrer Persönlichkeit und ihres Könnens zeigen. Daher besetzte ich Jeff Bridges, den ich seit langem bewundere, als alternden Musiker in »Crazy Heart«. Meinen zweiten Film »Auge um Auge« schrieb ich explizit für Christian Bale. Damit er eine Chance hat, seine Verwundbarkeit zu zeigen. Für Bulger hatte ich beim Schreiben niemanden im Hinterkopf. Johnny ließ mich wissen, dass er interessiert sei. Er liebt Biopics und spielt oft verrückte Leute, die dem Zuschauer sympathisch sind. Aber an Bulger ist nichts zu lieben. Er ist ein Sozio- und Psychopath. Diese Herausforderung wollte Johnny annehmen.
Er verschwindet aber fast hinter der Maske und Kontaktlinsen?
Bulger war bekannt für seinen stechenden Blick, der sich bis zur Seele durchfraß. Seine Gesprächspartner hatten Schwierigkeiten, Blickkontakt zu halten. Daher die Kontaktlinsen. Und Schauspieler lieben es, sich gerne bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln Zumindest die, mit denen ich gerne arbeite.
Bulger galt als sehr gewalttätig, was sie nicht verschweigen. Einige Szenen wie das Erwürgen eines Mannes sind schwer zu ertragen?
Ich habe die Gewalt in dieser Szene abgemildert. Der Mann war nach der Strangulierung nicht tot. Bulger hat ihn weiter gequält. Bis sein einstiger Handlanger um den Gnadenschuss bettelte. Solchen Exzess will ich nicht zeigen. Aber ich kann mich in solchem Film wie im Leben nicht völlig der Gewalt entziehen. Sie gehört leider zu unserem Leben seit dem Auftreten der ersten Homo Sapiens. Und wir haben uns an Gewalt in den Medien gewöhnt. Trotzdem schockiert mich, wenn sich Kinder ungerührt Bilder von Polizisten ansehen, die farbige Jugendliche durch eine Stadt jagen und prügeln. Ich will das selbst kaum sehen. Daher würde ich niemals Gewalt romantisieren und um ihrer selbst zeigen.
Sie erwähnten oben, dass Sie vor allem die Verwicklungen in der Familie faszinierten. Das eint »Black Mass« mit ihren vorherigen Filmen?
Jean Renoir sagte mal, ein Regisseur inszeniert sein ganzes Leben lang den gleichen Film. Mich interessiert vor allem die Loyalität in Familien und unter Freunden. John Connolly ist loyal zu Bulger. Er ging lieber ins Gefängnis als seinen Freund zu verraten. Mich interessierte, wohin diese blinde Freundschaft führt.
In dem Sie den Film als Familiendrama anlegen, müssen Sie sich dem Vergleich mit dem »Paten« stellen. Wie hoch ist der Druck?
Ich will nicht vor dem Vergleich drücken, zumal »Der Pate«, »Gomorrha« oder Melvilles »Samurai« zu meinen Lieblingsfilmen gehören. Außerdem liebe ich die Filme des Film Noir. Die Messlatte liegt also hoch. Doch wenn man sich davon unter Druck setzen lässt, sollte man das Filmemachen lassen.
Hilft es zu wissen, dass Stars wie Kevin Bacon für kleine Rollen zusagen?
Die Stars suchen fieberhaft nach solchen Rollen, denn in den gängigen Blockbustern agieren die Figuren selten wie menschliche Wesen. Was für mich ein Glück ist, weil sie kleine Parts dankbar annehmen. Für Hollywood und die Zuschauer ist es ein Desaster. Meine beiden Kinder sollen mit Vorbildern auf der Leinwand groß werden, an deren Schicksal sie mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen. Sie fehlen im amerikanischen Film.
Die Regie eines Blockbuster würden Sie ablehnen?
Wenn er einen humanen Touch hat, warum nicht. Einige Phantasy-Filme sind hervorragend inszeniert. Aber mich interessiert die Realität. Ich sehe lieber die Filme der Dardennes, »Liebe « von Haneke, »Die sieben Samurai« oder »Fahrraddiebe«. Das europäische Kino hat mich geprägt. Und wenn meine Karriere stockt, ziehe ich nach Frankreich.
Oder Sie arbeiten wieder als Schauspieler?
Vergessen sie es. Die Arbeit als Regisseur und Autor füllt mich aus. Und vor allem kenne ich jetzt den Unterschied zwischen einem mäßig begabten Schauspieler und einem Genie wie Jeff Bridges oder Johnny Depp. Sie sind mit Talent gesegnet, das ich für meine Filme nutze.
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