»Und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln.«
Wie Kanzlerin Merkel bei ihrem »Bürgerdialog« in Rostock unangemessen auf Äußerungen eines von der Abschiebung bedrohten Mädchens reagiert
»Gut leben in Deutschland – Was uns wichtig ist« war der Name der Veranstaltung im Rahmen des von der Bundesregierung inititierten »Bürgerdialogs«. Da durfte Angela Merkel natürlich nicht fehlen und stellte sich den Fragen Rostocker Schülern. Es hätte aus Sicht der Bundesregierung eine Veranstaltung werden können, in der die Kanzlerin im netten Gespräch mit noch netteren Schülern nette Ideen für die Zukunft sammelt. Wurde es aber nicht.
Der Beginn der Sendung: harmlos. Die Schüler klatschten artig über den Blazer der Kanzlerin und ihre Farbwahl. Der Moderator wies noch daraufhin, dass sich Schüler dem Thema so interessiert widmeten, dass die Forderung auftauchte: »Hauptsache sie hat irgendwas an.« In dem Rest der Sendung wurde dann über Klima, Umwelt, die Ehe für alle und auch über Flüchtlinge geredet. Alles sehr nett und dann kam Reem.
Nicht ganz so trivial war das Anliegen des palästinensischen Mädchens aus dem Libanon. Ihr droht die Abschiebung. Damit konfrontierte sie Merkel: »Ich habe ja auch Ziele, wie jeder andere. Ich möchte studieren, dass ist wirklich ein Wunsch. Es ist wirklich sehr unangenehm, zuzusehen wie andere das Leben genießen können und man selber es nicht mitgenießen kann.«
Dann kommt Merkel. Zu sagen, dass sie wie ein Elefant im Porzellanladen sich in dieses Thema wirft, wäre untertrieben. Mit »ich verstehe das«, beginnt sie. Doch sofort folgt ihr Aber. Denn: »Politik ist manchmal auch hart«, so Kanzlerin Merkel. Und erinnert das verzweifelte Mädchen daran, dass sie nicht die Einzige ist, die vor einem Dilemma steht. Und dass man nun mal nicht alle Flüchtlinge aus dem Libanon und Afrika aufnehmen könnte.
Diese Antwort für sich allein genonnen, wäre bereits genug Grund für Kritik an der Kanzlerin, greift sie die Forderung jener Rassisten auf, die in Freital und Meißen und all den anderen Brennpunkten eine deutlich verschärftere Asylpoltik fordern. Viel zu wenig greift die Kanzlerin, die eigentliche politische Dimension, der Flüchtlingsproblematik auf. Sie sagt zwar nicht, »Das Boot ist voll«, doch inhaltlich nähert sich Merkel dieser Forderung ganz nah an.
Wenig erstaunlich ist, was dann passiert. Das Mädchen, das sich eben noch mutig der Kanzlerin stellte, bricht in Tränen aus. Der eigentliche Skandal nimmt seinen Lauf, der inzwischen tausende Menschen in Rage über die Kanzlerin bringt und einen Sturm der Entrüstung im Internet auslöste.
Noch während ihres Plädoyers für schnellere Asylverfahren bemerkt die Kanzlerin die Tränen des Mädchens. Mit den Worten »Och Gott. Du hast das doch prima gemacht« unterbricht Merkel ihre Rede. Der Moderator interveniert: »Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es ums prima machen geht, sondern, das dass es eine sehr belastende Situation ist.« Worauf die Kanzlerin antwortet: »Ich weiß, dass das eine sehr belastende Situation ist. Und deswegen möchte ich sie trotzdem einmal streicheln.«
Tausende User im Internet reagieren schockiert: Unter dem Hashtag #merkelstreichelt lassen sie ihrem Frust freien Lauf. Das Credo: Wie kalt kann diese Kanzlerin sein? Und: Da knallt die Realität auf die Politik. So schreibt jemand auf Twitter: Übersetzt: »Ich will jetzt das verdammte Kind streicheln. Macht mir meine Werbekampagne nicht kaputt.« #merkelstreichelt
#merkelstreichelt Genial!!!!! pic.twitter.com/h1LFGb8JGo
— Claudia! (@CLAUD1A_K) July 16, 2015
Anzumerken bleibt, dass das im Internet abrufbare Video lediglich eine Zusammenfassung des NDR zeigt. Tatsächlich wird nur ein Ausschnitt des ganzen Geschehens wiedergegeben. Nicht zu sehen ist ein längeres Gespräch, in dem Merkel mit der Schülerin darüber spricht, dass der Libanon nicht als ein Bürgerkriegsland gilt und deshalb andere Menschen mehr Hilfe benötigen würden.
So etwas wie #Merkelstreichelt ist wichtig, denn es erinnert, wie Politik wirkt, Leid verursacht und Menschen ins Grab bringen kann.
— Chris (@Sirhcnailuj) July 16, 2015
Ändern tut dies an der Kritik im Netz wenig . Es geht um die Flüchtlingspolitik. Um den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland. Streicheln wird Reem mit ihrer begründeten Sorgen vor Abschiebung nicht helfen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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