Wenn das Gesicht verloren geht
Im Kino: »Ich seh, Ich seh« von Veronika Franz und Severin Fiala
Die Mama schläft friedlich. Das Kind ruft einige Male vergeblich, gibt dann auf. Kaum ist es aus dem Zimmer, reißt die »Schlafende« die allzu wachen Augen weit auf - und zermahlt unter lautem Knacken und mit starrem Blick ein wohl schon geraume Zeit im Mund verstecktes Stück Zwieback: Irgendetwas stimmt doch mit dieser Mama nicht. Oder lässt sich die im einsamen Haus am See plötzlich um sich greifende Spannung durch kleine, gehäufte Missverständnisse erklären? Die aus dieser Frage entstehende Ungewissheit wird in dem gemeinen, strengen und ästhetisierten Psychothriller »Ich seh, Ich seh« von Veronika Franz und Severin Fiala bis zur Unerträglichkeit gesteigert und mit Bildern kaum auszuhaltender Brutalität begleitet.
Die alleinerziehende Mutter von Zwillingsjungen kommt nach einer Operation mit bandagiertem Gesicht nach Hause - ihr Antlitz sieht nun aus wie ein konturloser Schafskopf, der wohl nicht unbeabsichtigt ganz fern an das Horror-Kind aus David Lynchs »Eraserhead« erinnert. Dazu ist sie plötzlich streng, kalt, extrem licht- und lärmempfindlich, kennt nicht mehr das Lieblingslied der Zwillinge und hat scheinbar einen regelrechten Hass auf einen der beiden Jungen entwickelt. Es verschwinden Familienfotos, andere nähren einen ungeheuren Verdacht. »Das ist nicht die Mama«, ist der so schlimme wie fixe Gedanke, der sich in den Kinderhirnen festsetzt. Ein furchtbar glaubhafter Sog entsteht: Ist diese Frau in eine fremde Rolle geschlüpft? Ist sie einfach irre? Wo genau ist hier der Unterschied? So rätselt man fieberhaft - und wird von der radikalen und schockierenden Wendung am Schluss doch eiskalt erwischt.
Fantasievolle Schock-Details, wie eingangs geschildert, gibt es eine Menge in »Ich seh, Ich seh«. Man sieht während dieser Perlen der Fiesheit Veronika Franz praktisch vor sich, wie sie ihrem Lebensgefährten Ulrich Seidl beim Frühstück unkonventionelle Ideen des Psycho-Horrors skizziert, während er mit halbrealen Abgründen kontert, die sich angeblich in Nachbars Keller abspielen. Man stellt sich das durchaus anregend vor. In »Ich seh, Ich seh« glaubt man denn auch viel Seidl entdecken zu können, vor allem in Szenen, in denen eine nicht weniger schreckliche Umwelt in die vergiftete Abgeschiedenheit von Mutter und Kindern eindringt, etwa in Form von gruselig »normalen« Rot-Kreuz-Sammlern oder dem Pfarrer. Doch auch Standbilder menschenleerer Käffer oder des Kruzifixes überm Bett verströmen jene Bedrohung, mit der Seidl noch die banalsten Gegenstände aufladen kann.
In dem Film spielen tote und lebendige Tiere zentrale Rollen, er kommt fast ohne Musik und mit nur wenig Worten aus. Und es klingen weitere österreichische Spezialisten für menschliche Abgründe an: Jessica Hausners verstörender Grusel aus »Hotel« oder Michael Haneke und dessen auswegloser und klaustrophober Horror aus »Funny Games«. Hanekes Aussage, er wollte mit dem schwer erträglichen »Funny Games« einen radikalen, nihilistischen Gegenentwurf zur leicht verdaulichen, aber omnipräsenten Gewalt des Mainstream-Kinos entwerfen, würde auch auf »Ich seh, Ich seh« zutreffen. Veronika Frank reflektiert hier Verlust, der sich in übersteigerter, perverser, ultrabrutaler Verlustangst äußert. Die hier gezeigte Gewalt ist das Gegenteil von leicht verdaulich, der Film ist ausweglos, kompromisslos.
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