Nur kein Theater!

Im Haus der Berliner Festspiele wartet das Festival »Foreign Affairs« mit gattungszerstörenden Extremen auf

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Festival »Foreign Affairs« ist von tiefem Misstrauen gegenüber den Mitteln des Theaters geprägt. Das ist konsequent. Ob dies einen Ausweg darstellt oder in eine Sackgasse führt, ist aber noch unklar.

Eine revolutionäre Situation besteht nach orthodoxer Lesart, wenn die, die die Macht haben, nicht mehr können, und die, über die sie ausgeübt wird, nicht mehr wollen. Nachgeborene Generationen haben gelernt, dass die Sache mit der Macht nicht gar so dichotomisch ist. Sie wird nicht nur von oben durchgedrückt, sondern muss auch von unten bestätigt werden.

Dass es im zeitgenössischen Theaterbetrieb weder unten noch oben stimmt, kann man recht genau am Programm des Festivals »Foreign Affairs« im Haus der Berliner Festspiele ablesen. In einem althergebrachten Theaterhaus, dem sein Ensemble abhanden gekommen ist und in dem die eingeladenen Künstler, der Zentralbespielungsdirektive überdrüssig geworden, auf Neben- und Hinterbühnen flüchten oder gleich in den Wald und auf Parkdecks, bläst eine so mächtig-ohnmächtige Gestalt wie ein Kurator, der mit seinen Einladungen über Produktionsmittel und Marktwert von Künstlern entscheidet, gleichzeitig aber auf Betteltour bei sogenannten Kofinanzierungspartnern gehen muss, zum Schwanengesang auf sein Genre.

Als ein Musterschüler des gattungszerstörenden Berserkertums lässt Matthias von Hartz die von ihm einbestellten Künstler jedes einzelne Element des herkömmlichen Theaters auseinandernehmen. Die Performancetruppe Forced Entertainment etwa darf sorgfältig errichteten Sprachgebäuden in großer Geste misstrauen. Sie reduziert alle 36 bekannten Shakespeare-Dramen auf etwa 40 Minuten lange Stücke und exzerziert die tragischen und die komischen Schicksale mit der Hilfe von Salzstreuern, Kerzenhaltern und Garnrollen durch. Das folgt noch ganz dem Zeitgeist des immer schneller, immer kürzer, immer mehr »Content« in immer konsumgerechter angeordneten Häppchens.

Diese Beschleunigung kontrastiert von Hartz aber mit einer gewaltigen Entschleunigung. Der isländische Künstler Ragnar Kjartansson lässt die Band »The National« ihre Schmerz- und Leidenshymne »Sorrow«, im Original gut drei Minuten lang, in eine sechsstündige Performance ausdehnen. Ans herkömmliche 90 Minuten-Format hält sich ebensowenig Jan Fabre. Allerdings muss der belgische Multikünstler in Berlin sein an dionysischen Ausschweifungen orientiertes Projekt »Mount Olympus« anstelle der ursprünglichen fünf Tage und Nächte auf 24 Stunden beschränken. Immerhin ist aber auch er auf der Suche nach den Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozessen, die im Erschöpfungszustand bei den Betrachtenden eintreten.

Völlig löst der New Yorker Miguel Gutierrez die Grenzen zwischen Publikum und Künstler, Produzent und Konsument, Körper und Auge auf, indem er mit seinem »Death Electric Emo Protest Aerobics«-Projekt, kurz »Deep Aerobics«, die Massen in Bewegung versetzt. Freilich ist aus der youtubegestützten Beobachtung von in Slow Motion abgefilmten Horden ekstatischer Menschen nicht erkennbar, ob in deren Innerem tatsächlich emotive Proteststrukturen aktiviert werden.

Noch weiter in die religiös-rituelle Richtung stoßen die Komponistin Georgia Sagri mit »my first science fiction book, Religion« sowie Angelica Liddell mit ihrer vierteiligen Werkschau vor. Liddell arbeitet sich an den Themenkomplexen Vergewaltigung, Schuld, Schmerz und Auferstehung ab, verweigert sich dabei aber einer Erlösung, wie sie Emo-Tanzmeister Gutierrez offeriert.

»Foreign Affairs« hält fein konsumistisch für jeden Geschmack ein Produkt bereit, und hat als verbindendes Element die Lust am Über-die-Stränge-Schlagen. Dass dies aus Verzweiflung am Status quo der Kunst wie der Welt geschieht, darf man unterstellen. Ob aus dieser Suche nach den Ursprüngen der darstellenden Kunst - dem Exzess, der Spiritualität, der leiblichen Übung - etwas Neues entsteht, wird die Zukunft zeigen. Momentan steht die wilde Praxis im Festspielhaus auf recht konventionellen Vermarktungsfüßen. Die XXL-Version von »Sorrow« kann man als Box aus 9 LPs erwerben. Der Shakespeare-Marathon hilft sicher beim Abi. Und »Deep Aerobics« ist schon jetzt eine Marke.

25. Juni bis 5. Juli, Haus der Berliner Festspiele

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