Risse im Reaktordeckel
Pfusch am Hochdruckreaktor von Flamanville aufgedeckt / Tests verschieben Bau um Monate
Paris. Die französische Nuklearsicherheitsbehörde Autorité de Sûreté Nucléaire (ASN) hat Materialmängel am Druckbehälter des im Bau befindlichen EPR-Kernkraftwerks von Flamanville an der südnormannischen Küste festgestellt und weitergehende Untersuchungen angeordnet. Der bereits mit dem Kühlsystem verbundene elf Meter hohe und 425 Tonnen schwere Behälter habe am Boden und am Deckel eine »von den Normen und Vorgaben abweichende« Materialzusammensetzung, so die Aufsichtsbehörde. Bei extremem Druck und hohen thermischen Belastungen könne es an diesem zentralen Teil des Reaktors zu Rissen und damit zur Gefahr des Austritts nuklearer Spaltprodukte kommen.
Nun muss ein eigentlich für den Export nach China bestimmt gewesener baugleicher Druckbehälter geopfert werden, um ihn umfangreichen und intensiven Materialtests zu unterziehen. Vom Ergebnis hängt ab, ob der Druckbehälter in Flamanville eingebaut bleiben kann oder ersetzt werden muss. Die Tests sollen bis Oktober dauern und den Bau entsprechend verzögern.
Damit steht das ganze Bauprojekt mehr denn je in Frage. Eigentlich waren Flamanville und parallel dazu der AKW-Bau im finnischen Olkiluoto als Vorzeigeprojekte für den neuen Europäischen Druckwasserreaktor EPR des französischen Areva-Konzerns gedacht. Das Vorhaben wurde jedoch vom Start weg durch eine Serie von Pannen und Skandalen überschattet. Es wurden immer wieder Baumängel festgestellt, die teuer und zeitaufwendig behoben werden mussten. Allein der mangelhafte Betonboden des Reaktorgebäudes, der teilweise abgerissen und neu gegossen werden musste, verzögerte den Bau um viele Monate. Hinzu kamen tödliche Unfälle und Enthüllungen über die schlechten Arbeits- und Sicherheitsbedingungen und die illegale Beschäftigung von Billigarbeitern aus Osteuropa durch Subunternehmen, die der staatseigene Energiekonzern EDF als Bauherr eingeschaltet hatte.
Eigentlich sollte der EPR-Reaktor in Flamanville schon im Jahr 2012 ans Netz gehen und insgesamt 3,3 Milliarden Euro kosten. Tatsächlich aber ist ein Ende des Baus in immer weitere Ferne gerückt und die Kosten dürften sich nach jüngsten Hochrechnungen auf mindestens 8,5 Milliarden Euro summieren.
Das war jedenfalls der Stand, bevor die ASN mit der jüngsten Hiobsbotschaft an die Öffentlichkeit trat. »Die Materialanomalien sind als schwer, ja sehr schwer einzustufen«, urteilte ASN-Chef Franck Chevet vor Parlamentsabgeordneten, »während völlig ausgeschlossen sein muss, dass der Reaktordruckbehälter irgendwann brechen kann«. Dagegen versucht die Regierung, die Mehrheitsaktionär von Areva ist, abzuwiegeln. Es geht ihr dabei wohl nicht zuletzt darum, die Verträge für den Bau von EPR-Reaktoren in China und Großbritannien zu retten.
EDF erklärt, dass der Bau in Flamanville »planmäßig weitergeführt« werde. Die Umwelt- und Energieministerin Ségolène Royal gibt sich in Interviews betont optimistisch und verkündet, dass Flamanville »keinesfalls verurteilt« sei. Da sie die unbequemen Expertisen und Warnungen der unabhängigen Aufsichtsbehörde ASN nicht aus der Welt schaffen kann, werden sie von ihr zum Beweis dafür umgewidmet, wie »transparent für die Öffentlichkeit« in Frankreich mit der Atomenergie umgegangen wird. »Jetzt sind die Dinge klar, alles ist ausgesprochen, es wird zusätzliche Tests geben, deren Ergebnisse veröffentlicht werden, und dann können die Arbeiten weitergehen«, so die Ministerin. Man werde möglicherweise ein Jahr verlieren, aber es werde zu Ende gebaut. Die Probleme mit dem Druckbehälter werde man durch »Korrekturarbeiten« schon in den Griff bekommen, versichert Ségolène Royal forsch. Darauf meint ASN-Chef Franck Chevet in einem Interview trocken: »Ich weiß nicht, ob Madame Royal über das technische Wissen verfügt, um das beurteilen zu können.«
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