Unterwasserwelt
Ein Meditieren, das Dresden jetzt gut gebrauchen kann: »Pelléas et Mélisande« in der Semperoper
Zwei Stunden dauert es, die Bühne der Semperoper vor der Vorstellung unter Wasser zu setzen, zwei weitere, um danach das Wasser wieder ablaufen zu lassen. 150 Paar Gummistiefel wurden angeschafft, damit man trockenen Fußes proben konnte.
Aber haben so prosaische Objekte wie Gummistiefel und Pumpen denn irgendetwas mit der vibrierenden Schönheit der Lichtreflexe auf einer Wasserfläche zu tun, mit glitzernden Tropfenkaskaden? Pure Theatermagie, sichtbar vom ersten Rang an aufwärts. Dem helldunklen Zauber des hoch aus dem See ragenden Wasserschlosses Allemonde unterlag auch das Parkett. Claire-obscur wie auf alten Gemälden, untermalt von schwebend unbestimmter Musik.
Die Bewohner des Schlosses Allemonde sind Gefangene in »alter mundus«, der »anderen Welt«. Auf diesem schwarzen Château im Wald, am See, am Strand leben Arkel, seine Tochter Geneviève, deren Söhne Golaud und Pelléas, die Halbbrüder sind, das Kind Yniold, Golauds Sohn, sowie Pelléas’ erkrankter Vater. Es scheint ein Stigma über diesen Männern zu liegen, sie ergrauen früh. Schon Yniold hat weißes Haar.
Eines Tages erscheint Mélisande wie ein Lichtstrahl im tiefen Schatten des Schlosses. Golaud, auf der Jagd verirrt, fand sie am Waldsee - eine Melusine, ein französisches Märchenwesen. Von allen Bewohnern Allemondes findet nur Pellèas Zugang zu ihr. Golaud tötet den Bruder in jähzorniger Eifersucht. Nachdem sie eine Tochter geboren hat, stirbt auch Mélisande.
Aber wiederum, was haben denn so irdische Dinge wie Schwangerschaft, Eifersucht, Zorn und Mord, was hat irgendeine »Handlung« mit Claude Debussys ätherischem Klanggebilde »Pelléas et Mélisande« zu tun, das man kaum eine Oper nennen darf?
Auf keinen Fall wollte Debussy ein dramatisches Werk mit festen Formen im herkömmlichen Stil schreiben. Er studierte Wagners Stil, kam aber nach intensiven Bayreuth-Reisen zu der Erkenntnis, dass nur Richard Wagner eine Wagner-Oper schreiben könne, kein anderer und er schon gar nicht. Was er hörte, war ihm zu direkt, zu sehr einem narrativen Willen untergeordnet.
Debussy wollte eine Musik, die schwebt und fließt, die in die vage Tiefe eines unausgesprochenen Worts, einer Liebe, die es vielleicht gegeben hat, eines auf den Tod hingeträumten Lebens leuchtet. Maurice Maeterlincks lyrisches Drama »Pelléas et Mélisande« war für Debussy der ideale Stoff. Fast willenlos lässt die Familie auf Allemonde geschehen, was geschieht; ohne ein Urteil, frei von Intrigen. Arkel singt es: »Die menschliche Seele ist sehr verschwiegen«. Wichtiger als Tod und Leben ist das Licht über dem Meer, das Wasser in der Grotte oder Pelléas’ Spiel mit Mélisandes goldenem Haar.
Bühnenbild und Licht schwelgen in einer Schönheit, die diesen Sinn trifft. Regisseur Àlex Ollé von der katalanischen Theatertruppe »La fura dels Baus« führt die Figuren wie im Halbschlaf in das Gewässer auf der Bühne, durch eine Dornröschenhecke, in die magisch hinter transparenten Wänden aufleuchtenden Zimmer des Schlosses. Manchmal tun die Dienstmädchen verstohlen etwas Handfestes: naschen von der Tafel, schauen nach den Schiffen ihrer Geliebten auf See.
Die Licht- und Stimmungszauberei auf der Bühne drei Stunden am Leben zu halten, ist allerdings ein heikles und schwieriges Geschäft. Marc Soustrot am Pult der Dresdener Staatskapelle hätte dem Regieteam unbedingt mit musikalischer Intensität helfen müssen. Dieses aber tat er nicht. Er nivellierte Debussys Stimmungsmalerei zum gleichförmigen Murmeln, verschliff und verschleppte Tempi und Dynamik. Ließ er die Staatskapelle denn doch einmal Aufrauschen, wunderte man sich nur noch, dass das überhaupt geht. Auch der Klang des in allen Landen gerühmten Orchesters konnte sich in der von mir besuchten Vorstellung kaum von vielerorts hörbarer guter Qualität abheben. Manchmal ließen winzige Soli und feine Farbspiele dennoch aufhorchen.
Mit der Sängerbesetzung hat man indes durchweg Glückstreffer gelandet. Alle beherrschen das scheinbar naiv und unbewusst dahingesungene Parlando perfekt. Camilla Tilling hat genau die Süße und vordergründige Unschuld in ihrer lyrischen Sopranstimme, die das geheimnisvolle Wesen ihrer Figur ausmacht. Mit jugendlich hohem beziehungsweise dräuend düsterem Bariton charakterisieren Philipp Addis als Pelléas und Oliver Zwarg, Golaud, sehr genau die Lebens- und Temperamentsunterschiede der Brüder. Besonders erfreulich, dass mit Christa Mayer, Geneviève, und Tilmann Rönnebeck, Arkel, auch die etwas kleineren Partien auffallend klangschön besetzt waren.
Ein Abend zum Meditieren, Sinnieren, in die Stille lauschen, den Dresden derzeit sicher gut gebrauchen kann.
Nächste Vorstellung am 1. Februar
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