Rush-Hour für den Mindestlohn
DGB informiert in einer Kampagne über die seit 1. Januar gültige Minimalvergütung
Der Berliner Bahnhof Ostkreuz gehört an Werktagen in der morgendlichen Rush-Hour wohl zu den belebtesten Orten der Hauptstadt. Diesen Umstand machte sich am Montag auch der DGB zu Nutze. Rund 30 meist ehrenamtliche Gewerkschafter hatten sich mit weithin sichtbaren roten Westen auf dem halbfertigen Bahnhof verteilt, um den Umsteigern noch ein wenig Lektüre für den Arbeitsweg mitzugeben.
Der handliche sechsseitige Flyer informiert über den am 1. Januar in Kraft getretenen Mindestlohn und bietet zudem Beratung und Unterstützung für alle an, denen die Minimalvergütung von ihren Arbeitgebern verweigert wird. Und da es sich um den Auftakt einer bundesweiten Informationskampagne handelte, die zeitgleich an rund 270 stark frequentierten Pendlerbahnhöfen im gesamten Bundesgebiet durchgeführt wurde, hatte sich trotz nasskaltem Schmuddelwetter auch Gewerkschaftsprominenz auf dem Bahnhof eingefunden.
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann geht davon aus, dass viele Unternehmen mit allen erdenklichen Tricks versuchen werden, das Mindestlohngesetz auszuhebeln. Zwar käme die »Stunde der Wahrheit« erst in einigen Wochen, wenn die ersten Lohnabrechnungen der potenziell Betroffenen vorlägen, doch das Gesetz und vor allem die auf Druck von Unternehmerverbänden quasi in letzter Minute noch aufgeweichten Ausführungsbestimmungen lüden zum Missbrauch nahezu ein, so Hoffmann gegenüber »nd«.
Dass befürchtet auch sein DGB-Vorstandskollege Stefan Körzell. Knackpunkt sei dabei die Dokumentationspflicht über die geleisteten Arbeitsstunden. Werde diese, wie jüngst wieder von CSU-Chef Horst Seehofer gefordert, für ganze Bereiche wie Klein- und Entsendebetriebe sowie für so genannte Minijobs faktisch außer Kraft gesetzt, verpuffe das Mindestlohngesetz für die dort Beschäftigten. Man lerne »doch schon auf der Knobelschule in Hammelburg, dass die Summe der geleisteten Arbeitsstunden multipliziert mit dem Mindestlohn den Monatslohn ergibt, der dem Arbeitnehmer zusteht«. Und dies müsse nachprüfbar sein. Körzell ist sich bewusst, dass man es mit mächtigen Widersachern zu tun hat. Es würden unzählige Seminare von Lobbyverbänden angeboten, um Unternehmern Tricks bei der »kreativen Ausgestaltung« des Mindestlohngesetzes beizubringen. Auch deswegen werde man »dranbleiben« und gegebenenfalls auch auf Nachbesserungen des Gesetzes drängen.
So soll die konzertierte Verteilaktion auch keinesfalls eine Eintagsfliege bleiben. Hoffmann setzt vor allem auf die seit dem 2.Januar geschaltete Telefon-Hotline des DGB. Bereits in den ersten Tagen hätten sich bis zu 400 Ratsuchende pro Tag an die Mitarbeiter gewandt - deutlich mehr als erwartet. Die Gewerkschaften gehen davon aus, dass der Andrang noch zunehmen wird, wenn die ersten Lohnabrechnungen vorliegen. Man sei darauf vorbereitet, betroffenen Mitgliedern Rechtsschutz zu gewähren und sie auf dem Klageweg zu unterstützen, betonte Hoffmann, der sich von der Info-Kampagne auch einen kleinen Mitgliederschub verspricht.
Arbeitgeber, die den Mindestlohn verweigern, gingen jedenfalls ein hohes Risiko ein, denn laut Gesetz können Geldbußen von bis zu 500.000 Euro verhängt werden. Allerdings scheuen erfahrungsgemäß viele Beschäftigte arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen mit ihrem Arbeitgeber, da selbst im Erfolgsfall das Risiko des Arbeitsplatzverlustes besteht. Um dies zu entschärfen hatte der DGB für das Gesetz ein Verbandsklagerecht gefordert, um gegen Firmen vorgehen zu können, die den Mindestlohn verweigern. Doch damit haben sich die Gewerkschaften nicht durchsetzen können.
Bei der Verteilaktion selbst kam man allerdings kaum ins Gespräch mit den vorbei hastenden Pendlern. Auch ein Gesprächsversuch des Reporters wurde auf gut berlinerisch abgeblockt: »Keene Zeit. Wenn ick zu spät uff Arbeet bin, dann nützt mir ooch der Mindestlohn nüscht mehr«.
Die bundesweite Mindestlohn-Hotline des DGB ist vorerst bis zum 31.März zu erreichen. 0391/4088003 (Festnetztarif)
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