Die Herrschaft der Lurche
Im Kino: Die fulminante Medienfarce »Nightcrawler« von Dan Gilroy
Die Industrie der Hetzmedien in den USA (und nicht nur dort) hat ein Problem: Die Kriminalitätsraten sinken unaufhaltsam. Das macht es schwierig, die Lüge vom täglich eskalierenden, von Afroamerikanern und Latinos dominierten Gewaltexzess am Leben zu erhalten. Um also zu simulieren, dass »die Gewalt« immer bedrohlicher von den (schwarzen) Zentren auf die (weißen) Vorstädte »überschwappt«, legt sich des Nachts eine neue Spezies von Bluthunden auf die Lauer: »Nightcrawler« - freie »Journalisten«, die mit kleinen Kameras bewaffnet den Polizeifunk abhören, um nur ja keine Katastrophe zu verpassen. Sie sitzen dabei in pfeilschnellen Autos, um bei den immer selteneren Schießereien als Erster vor Ort zu sein. Denn die Konkurrenz ist gnadenlos und die TV-Stationen kaufen nur das richtig kranke Horror-Material.
Regisseur Dan Gilroy (auch Drehbuch) hat über diese Koalition aus gehetzten »journalistischen« Zynikern und ihren zu kalten Rechenmaschinen pervertierten Abnehmern bei den Fernsehsendern eine faszinierende Medienfarce geschaffen - mit einem abgemagerten, schillernden und entfesselten Jake Gyllenhaal in der Rolle seines Lebens.
»Schwarz tötet Weiß« verkauft sich am besten. Diese Art knapper Handlungsanleitung ist genau nach dem Geschmack von Lou Bloom (Gyllenhaal). Denn der einsame, aber gruselig eloquente Gelegenheitsdieb hat sich sein krudes, sozialdarwinistisches Weltbild aus dem Internet heruntergeladen und auswendig gelernt: Motivations-Sprech, Business-Kauderwelsch, Start-Up-Gewäsch. Oder auch markigen Quatsch wie: »Was ich glaube ist, dass diejenigen belohnt werden, die sich den Arsch abrackern.« Den Menschen, die über ihm stehen, erklärt der Opportunist: »Menschen, die ganz oben sind, landen dort nicht zufällig.« Seinen »Praktikanten« (Riz Ahmed) speist der devote und gelehrige Schüler des Neoliberalismus mit einem Taschengeld und der Aussicht auf »positive Leistungsbewertungen«, »Einblicke in die Firma« und »Aufstiegschancen« ab.
Bloom ist dadurch der perfekte Erfüllungsgehilfe jener eiskalten und fast global siegreichen Philosophie von einer allerorten verkündeten und kaum hinterfragten »Selbsthilfe«-Kultur: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner - und das ist auch gerecht so! Wer in der Gosse landet, gehört dort auch hin.
Durch Zufall beobachtet Bloom den »Nightcrawler« (Nachtkriecher) Joe Loder bei der »Arbeit«: Der alte Hase (innerlich und äußerlich herrlich zerfleddert: Bill Paxton) hat eine im Autowrack eingeklemmte Frau vor der Linse. Um das Blut richtig ins Bild zu kriegen, muss er die Rettungskräfte behindern. Na und? Will etwa jemand die Pressefreiheit einschränken, hat das Publikum kein Recht auf authentische Berichterstattung?
Bloom ist gierig und als kapitalistischer Zauberlehrling frei von allen Zweifeln. Erlaubt ist ALLES, was Profit bringt. Er ist also wie geschaffen für den Job. Bloom riecht das Blut, schaltet Konkurrenten aus, manipuliert die Tatorte, steigt rasant auf. So weit, dass er irgendwann die Konditionen diktiert und die unter Quotendruck stehende Nachrichtenchefin, die seine Mutter sein könnte, zum Sex erpressen kann.
Rene Russo gibt dieser abgehalfterten Ex-Moderatorin Nina Romina - jener alternden Puffmutter der instrumentalisierten Schocknachricht - eine abgebrühte, hexenhafte Bosheit. Die famose Russo kontrastiert das aber gekonnt mit Rominas permanenter Angst vor dem Jobverlust - eine fatale, aber wohl bei vielen realen Medienverantwortlichen wirkende Kombination aus Härte und Ausgeliefertheit, die nicht nur bei der fiktiven Romina alle moralischen Schranken fallen lässt.
Für Regisseur Dan Gilroy ist denn auch nicht Bloom »das eigentliche Grauen, sondern die, die ihn für sein Handeln belohnen«. Gründe, warum junge Menschen sich an die Lüge und die Gewalt prostituieren, sich wie Blut witternde Kojoten gebärden, sieht Gilroy in einer defizitären Gesellschaftsordnung: »Verschlossene Türen, Praktikanten als Vertragsknechte - so sieht die Arbeitswelt heute aus.« Für die reißerischen, in seinem Film porträtierten lokalen TV-Stationen hat er kein gutes Wort: »Sie verkaufen Angst, um die Werbeeinnahmen zu erhöhen und nehmen die Zuschauer dabei als Geisel.«
Zwar betont Gilroy, keine moralische Lektion erteilen zu wollen. Und tatsächlich ist »Nightcrawlers« glücklicherweise vollkommen moralfrei. Dennoch passt sich der Film haargenau in das aktuell grenzenlose Unbehagen der Menschen den Medien gegenüber ein und wird dies weiter stimulieren. Auch wenn er andere Themen - und mit den sehr US-spezifischen, schrillen Lokalsendern - auch andere Medien behandelt: »Nightcrawler« ist, schon weil er eine der konsequentesten Medienkritiken im Mainstreamkino ist, auch der Film zur aktuellen Debatte um die nun überall vermuteten transatlantischen Medienlobbyisten: Wer so verdorben ist wie Nina Romina, der lässt sich bestimmt auch von der CIA benutzen!
Das Lied von den bösen Konzern- oder Staatsmedien wurde schon oft gesungen. Auch hängt einer bestimmten Art Medienkritik schnell etwas wohlfeiles und konsensheischendes an - wie allen Themen, bei denen »die da unten« sagen, dass »die da oben« sowieso machen, was sie wollen. Wird diese alte Melodie jedoch so exzellent gespielt, in so kunstvolle Form gegossen und in eine solch fiebrige Suche nach Blut verpackt wie in »Nightcrawler«, so hört man gerne noch einmal zu.
Der Film wirft uralte Fragen neu auf: Wie lange wollen wir uns noch von einem außer Kontrolle geratenen Medienbetrieb treiben lassen? Von dem Mantra von der Pressefreiheit und der Lüge von den »Bewachern der Demokratie«, die doch längst (und weiß Gott nicht nur in Russland) im Dienste der Oligarchie stehen? Mittlerweile sollte klar sein: Alles Gerede von grundlegender gesellschaftlicher Veränderung muss unrealistisches, niemals umgesetztes Wunschdenken bleiben, solange alle Debatten dominierende und verzerrende, neoliberale Propagandaschleudern wie der Murdoch-Konzern nicht entmachtet sind. Die alte Forderung der 68er nach einer Enteignung Springers ist daher so relevant wie nie.
Die vordergründig Agenda-losen Boulevardmedien in »Nightcrawler« sind alles andere als unpolitisch - ebensowenig wie die realen Vorbilder. Denn all der Sex und Crime dient der Ablenkung und verdrängt kritische Gedanken - wenn nicht schon die Kriminalität selbst für rassistische Stereotype genutzt wird. Zudem lassen sich die damit einmal geköderten Konsumenten sehr einfach mit der hauseigenen Propaganda abfüllen.
Jake Gyllenhaal trägt jede Szene des Films. Krasse Gewichtsvariationen scheinen großen schauspielerischen Leistungen zumindest nicht im Wege zu stehen, wie schon der fettgefressene Robert De Niro in »Raging Bull« oder der bedrohlich abgemagerte Christian Bale in »The Machinist« zeigen. Auch bei Gyllenhaal zeigt die Extrem-Diät extreme Wirkung: Die riesigen, fischartigen Augen im abgemagerten Gesicht, der dürre Körper, das wie eingefrorene dümmliche Lächeln lassen ihn wie einen Axolotl-Lurch, wie ein glitschiges, ungreifbares Nachtschattengeschöpf erscheinen - das er im Film ja auch ist. Es gibt Tiefseefische, die nie eine Spur Tageslicht abbekommen und mit einer Art Phosphorlaterne ausgestattet sind. An sie erinnert Bloom entfernt, wenn er sich mit stupidem Tunnelblick und einem Kamerascheinwerfer in der Hand den Tatorten nähert.
Eine wichtige Rolle spielt die Stadt Los Angeles als ausufernder Großstadtdschungel, in dem die Menschen als temporär geduldete Gäste erscheinen und nicht als dominante Gestalter ihrer Umwelt. In der zweiten Hälfte entwickelt sich der Film von einem ruhigen Außenseiterdrama zu einem abgründigen, furiosen Großstadtthriller. Ob »Nightcrawler« aber auf lange Sicht ähnlich relevant bleibt wie die nun von vielen Kritikern als Referenz genannten Klassiker »Network« von Sidney Lumet und »Taxi Driver« von Martin Scorsese - das bleibt abzuwarten.
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