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Billardkugel mit Ecken

Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Er war bei einem Friedenskongress, das Flugzeug kehrt zurück, »mit hundert Lügnern an Bord«, die Lügner hatten bekräftigt, sie seien gegen den Krieg. »Die Lügner sagen die Wahrheit, doch/ warum brauchen sie fünfzig Stunden/ für einen einzigen Satz?« Der Intellektuelle im bissigen Hader mit sich selbst. Ein immer wieder engagiert Beteiligter - an allem aber nie so beteiligt, dass er Kraft, Keckheit und Klugheit des kritischen Beobachtens verlöre. Die Wahrheit stets in Kontakt mit der Wahrnehmung.

»Tumult« heißt das neue Buch von Hans Magnus Enzensberger, eine Collage von Erinnerungen, ein Rückblick auf die sechziger, siebziger Jahre. Mit Chruschtschow ein Bad im Schwarzen Meer. Plötzlich Baader, Ensslin und Meinhof, Fliehende, vor der Wohnungstür. Leidenschaftliche Bekenntnisse zur kubanischen Revolution, gegen US-Amerika (»Das Verhör von Habana«) , wilde, weite Reisen durch die Sowjetunion; er heiratet die Tochter des Dichters Fadejew, der sich umbringen wird - wie Enzensbergers russische Frau auch. Ob Castro oder Kreml; er offenbart revolutionäres Pathos, aber wo er Partei ergreift, lässt ihn das andere doch nicht los: das rigide Despotische, die Düsternis der erpressten oder freiwilligen Anpassungen. Er gestattet sich keine samtene Selbstlüge aus Glaube, Geschichtsklitterei und gütigem Gehorsam. Er beschreibt sich als »Billardkugel« - vielleicht wäre Roulette noch passender: Man setzt auf Rot oder Schwarz, die Kugel jedoch rollt ins Bunte. Diese Kugel HMS hat Ecken.

Enzensberger ist Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Reporter, Essayist. Er mischt sich ein, er mischt nirgends mehr mit. Er hat sich geistreich angelegt, aber nie geisttödlich festgelegt. Er hat mit dem »Kursbuch« westdeutsch-intellektuelle Oppositionsgeschichte geschrieben, aber auf Kurs bringen ließ er sich nie. Natürlich war er kämpferisch, also links, aber als er für sich selbst entschied, kämpferisch zu bleiben, musste er logischerweise die obligaten linken Positionen aufgeben. Diese Weltgeistverwandtschaft. Diese kommunistenbündische Einfalt. Diese moskauklebrige Hörigkeit. Die Geschichte des Sozialismus, den er als eine grau-gemütliche Menschenmühsal aus Mauer, Maulhalten und Morgenrot-Melodeien empfand, fasste er in drei Zeilen: »Ein rotes Wunder geht auf,/ das wir nicht erleben./ Die Wunde des Möglichen blutet noch«.

Wortführend ging er durch die schöne anarchische Emphase der Achtundsechziger und kam in deren rüden Ideologisierungsschüben zum nüchternen Erwachen. Seit jeher lauert dieser Autor kühlblütig, zumindest unsentimental darauf, jeder These, die Zeitgeist wird, umgehend eine gegenteilige Argumentation entgegenzusetzen. Ja, er hat den »Spiegel« verhöhnt - und auf dessen Seiten sich ausgebreitet. Er hat die Medienmacht beizeiten als manipulative Bewusstseinsfolter analysiert - und auf jedes Messers Schneide tanzte er seine intelligent-geschmeidigsten Tänze. Dieser Dichter (»Verteidigung der Wölfe«, »Kiosk«, »Leichter als Luft«, »Blindenschrift«) besitzt einen feurigen Trieb zur originellen Volte, die sich der ideologischen Bindung federnd entwand: »Ideen muss man haben, aber warum sollte ich auf ihnen sitzen bleiben?!«

Unzuverlässigkeit ist der Adel eines Geistes, der ehrlich und neugierig genug bleibt, den Wirrwarr, den Eklektizismus unseres Daseins als Abenteuer zu begreifen - frei von faden Harmonietrieben und langweilig pastoralem Seelenyoga. Ankünfte betrachtet er skeptisch, Abschiede heiter, beides ist miteinander verschachtelt. In einem seiner Gedichte sehen ruandische Mörder einen doppelten Regenbogen und lassen für einen Moment die Messer sinken, dann töten sie weiter. Schönheit und Schrecken. Das eine als die Falltür ins andere. Der Boden der Tatsachen ist immer ein doppelter. Zwischen Grauen und Leuchten, Glanz und Elend. Sei herzhaft!, aber sei es nicht gar zu nah am Herzen.

Vier Maximen seien es leider, mit denen eine »landläufige Linke, die nichts weniger als wirklich links ist«, das Denken stillzulegen versucht: Nie etwas zugeben! Unbekanntes auf Bekanntes reduzieren! Immer nur mit dem Kopf denken! Und: Das Unbewusste hat möglichst zu kuschen! Schon 1982 schreibt Enzensberger in einem Brief: »Ich wünsche dir - wie mir selbst und uns allen - ein bisschen mehr Klarheit über die eigene Konfusion, ein bisschen weniger Angst vor der eigenen Angst, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, Respekt und Bescheidenheit vor dem Unbekannten. Dann werden wir weitersehen.«

Dieser Dichter schaut gern nach oben, wo sich über uns etwas zusammenbraut, das nicht zur Furcht treibt, sondern zum Staunen drängt: Wolken. »Kein Blitz, der dem andern gliche./ Und das alles ohne Gehirn!/ Herzlos - herzig, arm - reich, gut - böse/ Probleme, die ihnen fernliegen«. So heißt es im Gedicht, das einem seiner schönsten Bücher den Titel gab, »Die Geschichte der Wolken«. Es empfehle sich, »bei Müdigkeit/ Wut und Verzweiflung, die Augen/ gen Himmel zu wenden«, wo »die flüchtigsten aller Meisterwerke« zugleich jene Spezies bilden, die uns überleben wird, der wir aber immerhin zu verdanken haben, »daß es aufklart«. Zusatz: »zuweilen«.

Enzensberger treibt »Motivationsforschung«, er fragt, warum Menschen andere umbringen, und in der Reihe der Begründungen wird Rassismus aufgerufen, Religion, aber letztlich steht da als Motiv für Mord auch: »Nur so«. Dies ist ein Gedichtabschluss in genau jener Art, die vielen Texten Enzenbergers eine Urgewalt der Nichtigkeit einschreibt. Deren Folgen so unberechenbar wie entsetzlich sind, weil sie den Zusammenhang knüpfen von »Mittelmaß und Wahn« - so heißt eine Essay-Sammlung des Autors.

Es geht ihm darum, die Sinne für ein Glück geschärft zu halten, das nicht kommen wird - jedoch das Bereitsein zu diesem Glück schützt vor den ärgsten Verrohungen. Das ist erfahrungssichere Einfalt. Einfalt als rettende Gabe - gegen Gesinnungsrausch; gegen die Auflösung unserer Widerstandskräfte in all den geschäftigen Aufgeregtheiten, die täglich die Medien füllen. Zu beobachten sei, so Enzensberger, der Verlust von jedwedem »ethischen Konsens in den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz«; der Einzelne sähe sich »auf eine Position zurückgeworfen, der jeder moralische Komfort abhanden gekommen« sei; verbindlich vertrauenswürdige Instanzen, ob politische oder religiöse, hätten ihre Schutz- und Impulskraft verloren. Im Gedicht »Schlüsselgewalt« lautet demnach die Bilanz: »ausgeschlossen, obdachlos schlagen wir/ mit der Stirn gegen die eigene Tür«.

Er betitelte die Sowjetunion als »ein Obervolta mit Raketen«, sah in Kissinger seinen »Lieblings-Kriegsverbrecher«, nannte - in hohen Zeiten von dessen Ächtung - Egon Krenz einen »Pionier des Rückzugs«, bezeichnete überhaupt frühere Parteiführer des Schein-Sozialismus als »Fachmänner der Demontage«, denkwürdig für die Zukunft der Demokratie. Denn: Die Lösung von Aufgaben, vor denen heutige Politiker stehen, fordern nicht strammes Vorwärtsgebaren, sondern Fähigkeiten eines strategischen Rückzuges, der die Welt und die Menschen schont. »Die Zivilcourage, die dazu nötig wäre, steht jener kaum nach, die ein kommunistischer Funktionär aufzubringen hatte, als es darum ging, das Monopol seiner Partei abzuschaffen.«

Deutscher Humor hat seinen festgelegten Beginn. Der ist am elften Elften. Heute. Dieses Datum bedeutet: Lustigsein bedarf gleichsam der Erlaubsfrist, und so sieht es denn mitunter auch aus. An solchem Datum auf die Welt zu kommen, gleicht einer Fügung, von der nicht sofort gesagt werden kann, ob sie Zuspruch oder spöttische Schmähung bringt. Dass ein Dichter wie Hans Magnus Enzensberger an diesem Novembertag - 1929 in Kaufbeuren im Allgäu - geboren wurde, hat den Anschein einer provokativen Schöpferlaune. Aber es wäre jetzt falsch, den Hochmut dieses Geistesblitzers grob gegen das Profane von Fasching und Karneval zu setzen - denn gerade Enzensberger ist in all seiner zuspitzenden und hochstehenden Zeitkritik doch ein frech frontenhüpfender Verständnispapst fürs Alltägliche fürs bebend Banale geworden. Er überschätzt den Menschen nicht - er sieht ihn (in jenen fortwährend wechselnden Zeiten, die nichts wirklich Neues bringen) verständnisvoll sieglos. Er ist kein Narr, aber doch wohl dessen naher Verwandter: ein Schelm.

Die schönste, weiseste Anekdote in seinem Buch »Tumult« handelt von der Frage eines Freundes von Enzensberger an Mao Tse-Tung: Wie der Große Vorsitzende sich die Zukunft vorstelle. Mao nimmt ein Notizheft, reißt eine leere weiße Seite heraus und gibt sie wortlos dem Gast. Dieser, der Dramatiker Armand Gatti, steckt das Blatt daheim in irgendein Buch, eines Tages finden seine Kinder den Zettel »und kritzeln ihn mit farbigen Hieroglyphen voll, die jeder Entzifferung spotten.«

Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp. 288 S., geb., 21,95 €.

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