Petra Pau: Vertrauen der NSU-Opferfamilien in Rechtsstaat bleibt erschüttert

Debatte über Lehren aus Rechtsterrorismus / Münchner Gericht sagt Verhandlungstag wegen Erkrankung Zschäpes ab

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Update 17.30 Uhr: Die Vize-Präsidentin im Bundestag, Petra Pau (Linke), sagte, sie wisse aus Gesprächen mit vielen Angehörigen, dass das Vertrauen der Hinterbliebenen in den Rechtsstaat schwer erschüttert sei. »Ich komme in Rage, wenn Behörden und Regierungen Ermittlungen zum NSU verhindern oder behindern versuchen«, erklärte Pau. Sie kritisierte das Land Brandenburg, das sich geweigert habe, einen V-Mann mit NSU-Bezug vor dem Prozess in München aussagen zu lassen. Dadurch könne Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihr Versprechen einer bedingungslosen Aufklärung nicht einhalten. Im Vorwort zu dem nun erschienenen Buch schreibt die Kanzlerin: »Wir müssen verhindern, dass sich solche Taten jemals wiederholen. Wir müssen aufklären und vorbeugen.« Nach Ansicht von Pau kann bislang noch keine Rede von bedingungsloser Aufklärung sein.

Update 15.00 Uhr: Ihn schmerze, »welche Show« Beate Zschäpe vor Gericht »abzieht«, sagte Abdul Kerim Simsek, dessen Vater Opfer der NSU-Murde wurde. Die Angeklagte zeige keine Ruhe. Seit 14 Jahren trage seine Familie die große Last, »wir wollen sie eines Tages endlich ablegen«, erklärte Simsek. »Ich finde keine Worte für ihr Verhalten und Auftreten«, ergänzte Gamze Kubasik. Für sie sei Zschäpe ein Unmensch. »Eigentlich steht doch alles fest, wieso zieht sich das alles so in die Länge«, habe sich Mustafa Turgut anfangs gefragt. Sein Bruder wurde 2004 in einem Rostocker Imbiss erschossen.

Update 13.10 Uhr: Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer, Barbara John, bekräftigte im Deutschlandradio Kultur ihre Kritik an der Aufarbeitung der Terrorserie. Von den Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses sei noch keine umgesetzt worden, sagte John. Als Beispiel nannte sie die Regelung, wonach bei Gewalt gegenüber Einwanderern immer auch in Richtung Rechtsextremismus ermittelt werden sollte. Dies müssten die Länderpolizeien umsetzen, hier sei aber nichts passiert: »Das interessiert die anscheinend gar nicht, das ist noch nicht angekommen - obwohl es ja schon vor einem Jahr empfohlen worden ist.«

John kritisierte außerdem, dass es trotz der Fehler der Ermittler gegen keinen einzigen Polizisten, Staatsanwalt oder Verfassungsschützer wegen des Anfangsverdachts der Strafvereitelung im Amt Ermittlungen gebe. »Es ist sagenhaft, dass hier Dinge passieren, die so gegen das Gesetz sind und niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Wer kann das verstehen?« Da sei »richtig etwas faul«, sagte John.

Update 11.55 Uhr: Drei Jahre nach dem Bekanntwerden der Mordserie des rechtsradikalen NSU hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), für Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden geworben. Die Behörden hätten auf die Fehler bei den Ermittlungen in der damaligen Mordserie reagiert, sagte Özoguz dem »Hamburger Abendblatt« vom Dienstag. »So etwas würde es heute in dieser Form nicht mehr geben.«

Özoguz hob besonders die Reform des Verfassungsschutzes und die Einführung einer Terror-Datei gegen Rechtsextremismus als wichtige Instrumente gegen den Rechtsterrorismus hervor. Hingegen kritisierte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter in der »Neuen Osnabrücker Zeitung« vom Dienstag die Konsequenzen aus der NSU-Mordserie als unzureichend. Erforderlich wäre ein radikaler Umbau des Verfassungsschutzes, verbunden mit einem weitgehenden personellen Neustart, sagte Hofreiter. »Die notwendige Zäsur bei den Sicherheitsbehörden ist bisher ausgeblieben.«

Update 11.05 Uhr: Hinterbliebene der NSU-Opfer und antifaschistische Initiativen fordern immer wieder, Straßen nach den Ermordeten der Neonazigruppe zu benennen. Doch das Gedenken ist für Politik und manche Bürger nicht selbstverständlich. Ein Bericht von Peter Nowak.

Update 10.12 Uhr: Die mit Spannung erwartete Vernehmung des früheren V-Manns »Piatto« im NSU-Prozess ist am Dienstag ausgefallen. Das Gericht hat den Verhandlungstag wegen Erkrankung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe abgesagt.

Update 10.00 Uhr: Der heutige Verhandlungstag in München, exakt drei Jahre nach dem Auffliegen des NSU, muss offenbar ohne die Hauptangeklagte Beate Zschäpe stattfinden. Sie habe sich, so teilte das Gericht mit, krank gemeldet. Man warte auf die ärztliche Stellungnahme. hei

Update 9.40 Uhr: Dienstagmorgen, Oberlandesgericht München. Der Prozess gegen Mitglieder und Helfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) wird fortgesetzt. Das Gericht hat einen Zeugen geladen, der zu den Spitzenleuten der Neononazi-Szene gehörte - und ein Top-V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes war. Carsten Szczepanski, alias »Piatto«, galt als Einpeitscher der militanten Neonazis. Nach seiner Enttarnung als V-Mann wurde er mit einer neuen Identität versorgt und lebt an einem geheimgehalten Ort.

Die Ladung des Zeugen, der laut Aussagen seiner Auftraggeber vom Verfassungsschutz dem mutmaßlichen NSU-Mördertrio sehr nahe kam, war nicht konfliktlos. Die Potsdamer Geheimdienstler hatten eine sogenannte Sperrerklärung verfügt – das heißt, sie wollten nicht, dass ihre einstige angebliche Topquelle vor dem Gericht aussagt. Nach Protesten auch der Nebenklage erklärte sich das Potsdamer Innenministerium grundsätzlich damit einverstanden, dass der Zeuge Fragen des Gerichts beantwortet, aber unter Bedingungen: Er müsse sich an einem geheimen Ort aufhalten und dürfe nur über eine Videoleitung befragt werden. Stimme und Aussehen sollen verfremdet, die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Vor Beginn des Verhandlungstages gab es also Spekulationen verschiedenster Art, wie der Zeuge präsentiert wird.

Angeblich fürchtet man um Leib und Leben des einstigen Spitzels. Was womöglich sogar begründet ist, denn »Piatto« hat Ende der 9oer Jahre sehr clever die oft von ihm selbst gegründeten militanten Zellen »hochgehen« lassen. Er wäre auch nicht der erste einstige V-Mann, der in jungen Jahren sein Leben beendet. Man erinnert sich an das Ableben von »Corelli«, der für das Bundesamt für Verfassungsschutz gespitzelt hatte.

Szczepanski war ebenso gewalttätig wie gerissen. Er hatte Kontakte zum KuKluxKlan nach Übersee, gab Untergrundzeitschriften heraus. Theorie und Praxis bildeten bei ihm eine Einheit. Im Mai 1992 war er einer der Antreiber, als eine Gruppe Skins einen nigerianischen Asylbewerber fast totschlug und anschließend ertränken wollte. Im Februar 1995 wurde der Schläger zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt. Auch aus dem Gefängnis hat Szczepanski seine Nazi-Hefte weiter publizieren können. Laut Prozessakte hat Szczepanskis Spitzeltätigkeit im Juli 1994 begonnen, als er in Untersuchungshaft saß. Er habe »plastiktütenweise [...] Briefe, rechtsextremistische Publikationen« und anderes Material geliefert, schwärmte einer seiner V-Mann-Führer. Der heisst Gordian Meyer-Plath und ist heute Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz habe ungeahnte Einblicke in die bundesweite und internationale Szene erhalten. »Es war ein Quantensprung«, so Meyer-Plath, der noch heute daran festhält, dass der Geheimdienst keine Fehler gemacht habe, als er den Politkriminellen für sich arbeiten ließ.

Im August 1997 half der Dienst dabei, Szczepanski in den offenen Vollzug zu verlegen. Seine V-Mann-Führer erleichterten ihm den Kontakt zur Szene. Sie stellten beispielsweise den Fahrdienst, wenn ihr »Piatto« sich mit »Blood & Honour«-Anführern in Sachsen traf. Man gab dem Gefangenen sogar ein Handy, angemeldet auf das Brandenburger Innenministerium. 1998 meldete »Piatto« seinen V-Mann-Führern, einer seiner Gesinnungsgenossen – Jan Werner - wolle Waffen für das NSU-Trio besorgen. Die drei NSU-Mitglieder – Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäüe – wollten noch einen Überfall begehen und sich dann ins Ausland absetzen. Eine Frau aus dem Führungszirkel von »Blood & Honour« wolle Beate Zschäpe ihren Pass zur Verfügung stellen. Bei einer Telefonüberwachung fingen die Ermittler eine SMS an Szczepanski ab. Sie lautete: »Hallo. Was ist mit den Bums«. Gemeint waren wohl Waffen, vermuteten Ermittler.

Die Kontakte zu der Gruppe, die man heute als Nationalsozialistischen Untergrund kennt, waren eher eine Art Beifang. Doch die SMS wirft bis heute zahlreiche Fragen auf, denn »Piatto« betonte auch nach dem Auffliegen des NSU 2011 bei seiner Vernehmung durch das Bundeskriminalamt, nichts von irgendwelchen Waffen für untergetauchte Skinheads in Sachsen zu wissen und erst jetzt aus den Medien etwas vom NSU gehört zu haben.

Zwei Jahre nach der Meldung des V-Manns »Piatto« begann dann die Mordserie, der neun türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmer und eine Polizistin zum Opfer fielen. hei

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