»Spiegel Online« und die Terrorgefahr von links
Handgranaten gegen RWE-Mitarbeiter? Ein Faktencheck
Drohte eine »eine neue Dimension der Gewaltbereitschaft im linken Milieu«? Laut »Spiegel Online«, dem deutschen Online-Leitmedium, ist diese Gefahr gegeben, nachdem im von Braunkohle-Gegnern besetzten Hambacher Forst bei Köln Handgranaten gefunden worden sein sollen. Doch die Belege sind dünn – und sie basieren letztlich auf Aussagen von RWE-Mitarbeitern. Die Gefahr wirkt arg konstruiert.
+++Schritt eins: Polizei Düren übernimmt RWE-Behauptungen
Eine Räumung des seit Jahren immer mal wieder von radikalen Klima-Aktivisten besetzten Hambacher Forsts findet immer alle paar Monate statt, woraufhin der Forst, der RWEs Tagebau Hambach weichen soll, kurz darauf erneut besetzt wird.
Auch Gewaltvorwürfe sind nicht selten: RWE-Mitarbeiter sagen stets, sie seien von den Besetzern angegriffen worden. Und die Besetzer werfen den RWE-Mitarbeitern Gewalt vor. Diesmal aber sollen die Besetzer Barrikaden mit Handgranaten gesichert haben – Handgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Es wäre beinahe zu einer Katastrophe gekommen, lesen wir bei »Spiegel Online«. Die Handgranaten »sollten womöglich als Sprengfallen dienen«, wird dort ein Kriminalbeamter zitiert. »Eine Detonation hätte ... in einem Umkreis von 30 Metern tödlich sein können«, schreibt SpOn unter Berufung auf einen Sprengmeister in Diensten von RWE.
Handgranaten? »Ermittlungen ergaben ..., dass bereits im Vorhinein Weltkriegsmunition im Umfeld des Tatortes aufgefunden wurde«, heißt es in einer Mitteilung der Polizei Düren.
Das heißt: Es war wohl nicht die Polizei, die die Handgranaten fand, sondern eher jemand anderes, wahrscheinlich jemand von RWE. Und weiter: Die Munition »war mutmaßlich von den Straftätern in Tatortnähe abgelegt worden.« Ein vager Verdacht, und doch ist nicht von Tatverdächtigen die Rede, sondern von »Straftätern«.
Denn die Besetzer haben RWE-Mitarbeiter »massiv angegriffen«, heißt es in der Pressemitteilung der Polizei. Doch die Polizei berief sich offensichtlich auf die Darstellung der angeblichen Opfer, die »drei der Straftäter bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten« konnten. Das heißt: Die Polizei war zum Tatzeitpunkt nicht vor Ort, stellt aber Tat-Sachen-Behauptungen im Brustton der Überzeugung auf.
+++ Schritt zwei: »Spiegel Online« übernimmt Polizei-Darstellung
Die angeblichen Straftäter stellen die Sache übrigens anders dar: In dieser Darstellung sind die RWE-Mitarbeiter die Angreifer.
Seriöse Polizeiarbeit würde bedeuten, erst einmal zu ermitteln und dann Faktenbehauptungen aufzustellen. Die Polizei Düren übernimmt stattdessen beinahe eins zu eins Behauptungen einer Seite – zufällig von Menschen, die beim wichtigsten Arbeitgeber der Region beschäftigt sind. Damit verleiht sie den RWE-Behauptungen höhere Weihen: Plötzlich mutieren sie zu einer offiziellen Polizei-Darstellung.
Diese Polizeidarstellung wurde gestern von vielen regionalen Medien und heute auch von »Spiegel Online« aufgegriffen. Der ganze »SpOn«-Artikel beruft sich fast vollständig auf Polizei-Aussagen (und den RWE-Sprengmeister). Die Gegendarstellung der beschuldigten Besetzer wird nachgereicht. Am Rande. Die Überschrift aber lautet: »Handgranaten bei Umweltaktivisten gefunden«.
+++ Schritt drei: »Spiegel Online« spekuliert über Terror-Gefahr von links
Zur Erinnerung: Es wurden also Handgranten aus dem Zweiten Weltkrieg in einem besetzten Waldstück gefunden, höchstwahrscheinlich von RWE-Mitarbeitern. Die Handgranaten wurden »mutmaßlich« von den Waldbesetzern »in Tatortnähe« abgelegt, munkelt die Polizei Düren auf Basis nicht abgeschlossener Ermittlungen.
Ist das nicht eine gute Gelegenheit, um über eine neue Terror-Gefahr von links zu spekulieren? Durchaus, findet man bei »Spiegel Online«. Natürlich mit Hilfe eines Experten, der sich nicht namentlich zitieren lassen will: »Sollten die Granaten tatsächlich vorsätzlich platziert worden sein, handelte es sich nach Einschätzung von Staatsschützern um eine neue Dimension der Gewaltbereitschaft im linken Milieu.« Der Begriff Terror fällt dann etwas verbrämt als »terroristische Dimension«.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.