NATO überdenkt Kooperation mit Kabul

Auch an der jüngsten Insider-Attacke gegen ISAF-Offiziere zeigt sich die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan

  • Olaf Standke
  • Lesedauer: 4 Min.
Die ISAF-Truppen in Afghanistan beraten über die Konsequenzen aus der jüngsten »Insider-Attacke« auf hohe NATO-Offiziere. US-Außenminister Kerry traf zu einem unangekündigten Besuch in Kabul ein.

Der Schock sitzt tief bei der ISAF-Truppe in Afghanistan. Das Pentagon hat den jüngsten Anschlag auf ranghohe NATO-Offiziere am Mittwoch (Ortszeit) scharf verurteilt und den getöteten 55-jährigen US-Generalmajor Harold Greene gewürdigt. 13 weitere internationale und heimische Kräfte hatte ein afghanischer Soldat verwundet, als er in einer Militärakademie das Feuer auf eine Delegation der Schutztruppe eröffnete; darunter befand sich auch der deutsche Brigadegeneral Michael Bartscher, der sich inzwischen in »stabilem Zustand« befinden soll.


Er gehört zu jener Einheit, die mit der afghanischen Seite das weitere Vorgehen bei der Ausbildung der Kabuler Streitkräfte abstimmen wollte. Gemeinsam mit afghanischen Spitzenmilitärs befanden sich die NATO-Offiziere am Dienstag auf einem Rundgang durch das Camp Qargha auf einem Hochplateau nahe der Hauptstadt, eine der modernsten Offiziersschulen der Armee. Dort hat der Attentäter ersten Erkenntnissen zufolge schon seit zwei Jahren Dienst getan. Es ist nicht der erste Anschlag eines afghanischen Uniformierten gegen die »Verbündeten«. Im September vergangenen Jahres hat ein Soldat im Osten des Landes drei ISAF-Soldaten erschossen. Im Februar 2011 starben drei Bundeswehrangehörige, als ein afghanischer Soldat in der Provinz Baghlan das Feuer eröffnete.


Nach der jüngsten sogenannten Insider-Attacke ließ das Bundesverteidigungsministerium umgehend verkünden, dass man mit seinen Partnern in Afghanistan engagiert bleiben und den Einsatz dort fortsetzen werde. ISAF (International Security Assistance Force) allerdings setzt die Zusammenarbeit mit der Afghan National Army (ANA) erst einmal aus. Noch am Dienstag ordnete ihr Kommandeur Joseph Dunford an, dass alle internationalen Berater und Trainer bis Freitag in den Lagern zu bleiben hätten.


Über längerfristige Konsequenzen wird zur Stunde zwar weiter beraten, doch könne der Vorfall nicht ohne Folgen bleiben – was die Frage nach eigenen Sicherheitsvorkehrungen einschließen müsste. Eigentlich gelten seit langem sehr strenge Schutzprotokolle für die Zusammenarbeit. Durchaus übliche Schutzwesten allerdings fehlten jetzt bei den ISAF-Offizieren.


Die USA und ihre Verbündeten wollen bis Ende des Jahres alle Kampftruppen aus dem Land abziehen. Derzeit sind noch knapp 50 000 IAFF-Soldaten aus 46 Ländern in Afghanistan stationiert, darunter 2400 Bundeswehrangehörige vor allem im Norden des Landes. Es waren einmal weit mehr als 100 000. Von 2015 an will die NATO dann noch mit etwa 12 000 Soldaten in Afghanistan präsent sein, davon bis zu 800 deutsche. Sie sollen die afghanischen Streitkräfte ausbilden und beraten.
Wie lange die geplante Mission mit dem Namen »Resolute Support« (Entschlossene Unterstützung) laufen wird, ist aber vier Wochen vor dem NATO-Gipfel in Wales noch völlig unklar. Voraussetzung ist ohnehin erst einmal ein Sicherheitsabkommen, das den ausländischen Soldaten u.a. Schutz vor Strafverfolgung durch die afghanische Justiz gewährt. Es muss noch vom neuen afghanischen Präsidenten unterzeichnet werden, dessen Amtsantritt Ende August erwartet wird – doch noch streit man in Kabul über das Ergebnis der notwendig gewordenen Stichwahl. Was die »Zeitlinie noch schwieriger« mache, wie es Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen formulierte. Am Donnerstag traf US-Außenminister John Kerry zu einem unangekündigten Besuch in Kabul ein. Er wolle sich mit den beiden Anwärtern auf das Präsidentenamt, Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani, sowie mit Präsident Hamid Karsai treffen. Kerry werde beide Kandidaten dazu ermutigen, kollegial und staatsmännisch zusammenzuarbeiten.


Derweil ist die Zahl ziviler Opfer nach UN-Angaben in den vergangenen Monaten stark gestiegen. Vor allem im Vorfeld und nach den Präsidentschaftswahlen habe sich die Sicherheitslage deutlich verschlechtert. So wurden im ersten Halbjahr etwa 1600 Zivilisten getötet. Die afghanischen Sicherheitskräfte – neben der Armee mit 195 000 Soldaten sind das die 157 000 Angehörigen der Afghan National Police (ANP) – müssen sich zunehmenden Taliban-Angriffen erwehren.

Dabei wurde auf einem Gebergipfel vor zwei Jahren eine Verkleinerung der Truppenstärke nach 2014 um zusammen über 120 000 Mann vereinbart. Längst fordern Experten eine Aufstockung; allerdings würde das zu einem riesigen Loch im Kabuler Haushalt führen, denn die finanziellen Zusagen orientieren sich an schrumpfenden Truppenstärken.


Täglich vermeldet die Regierung in Kabul die Zahl der getöteten Aufständischen; am Mittwoch waren es 48. Über die eigenen Verluste schweigt man lieber. Beobachter gehen zur Zeit von jeweils bis zu 400 Mann im Monat aus. Weitaus häufiger als Attacken auf ausländische Soldaten sind übrigens Angriffe innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte. Am Mittwoch vergiftete ein Polizist auf einem Außenposten in der Provinz Uruzgan sieben Kollegen und flüchtete danach mit Aufständischen.

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