Zwischen Hoffnung und Abschiebung
Friedensmarsch erreichte Brüssel / Europas Flüchtlinge fordern ihre Rechte ein
Brüssel. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag in der inoffiziellen Hauptstadt der Europäischen Union. Auf einer kleinen Grünfläche zwischen Brüsseler Nordbahnhof und der Chaussee d’Anvers, wo große Wohntürme in den Himmel ragen, sitzen rund 70 Flüchtlinge im Kreis und erörtern den Ablauf der kommenden Tage. Einer spricht, die anderen hören zu. Dann darf jeder seine Meinung sagen. Gemeinsam wollen sie entscheiden, wie sie weiter vorgehen. Einen Chef gibt es nicht. Jeder ist gleich.
In ihrem »normalen« Leben in Europa ist das nicht so. Da gibt es auf der einen Seite die Europäer, die Rechte haben. Und auf der anderen Seite stehen sie, die Flüchtlinge, die keine Rechte haben. So jedenfalls komme es ihm vor, sagt ein Somalier, der seinen Namen nicht nennen möchte. »Wir sind nicht erwünscht«, glaubt er. Dabei wolle er doch nur das, was sich jeder Mensch wünscht: ein menschenwürdiges Leben.
Sein Plan schien so einfach: Er wollte dem Krieg und Elend in Somalia entkommen und in Europa ein neues Leben beginnen. Eines ohne Krieg. Ein Leben, in dem er arbeiten, Geld verdienen und eine Familie gründen könne. Aber als der 25-Jährige in Italien ankam, merkte er schnell, dass sein Plan nicht aufging. »In Italien hatten wir kaum was zu essen und lebten auf der Straße,« berichtet er. Er schaffte es nach Deutschland, aber auch dort folgte Ernüchterung. »Man hat mir gesagt, dass Italien für mich zuständig ist, weil ich dort erstmals EU-Boden betreten habe«, sagt er.
Diese Regelung abzuschaffen, ist eine der Forderungen der Flüchtlingsgruppe an die EU. Um sie an die Verantwortlichen heranzutragen, sind sie Ende Mai zu einem Europäischen Friedensmarsch aufgebrochen - mit dem Ziel Brüssel, wo die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten am Donnerstag und Freitag zum Juni-Gipfel zusammenkommen.
Die Flüchtlinge verlangen Bewegungsfreiheit und die freie Wahl des Wohnsitzes. Den Mittelmeeranrainern, allen voran Italien und Griechenland, wäre das wohl recht. Sie fühlen sich mit der wachsenden Zahl ankommender Menschen überfordert und von den weiter im Norden gelegenen EU-Ländern alleingelassen. Bei dem Ratstreffen soll auch dieses Thema zur Sprache kommen. Viele andere, wie die Unterbringungspraxis in Lagern und Gefängnissen oder die Aufrüstung des Mittelmeers durch Frontex und Eurosur zur besseren Abschottung der EU, werden nicht kritisch hinterfragt.
Der Somalier, der sich vor Italien fürchtet, lebt seit Januar in Berlin und rechnet jeden Tag damit, nach Südeuropa abgeschoben zu werden. Wie seine Zukunft aussieht? Auf die Frage weiß der 25-Jährige keine Antwort. »Heute« und »morgen« sind die Wörter, in denen er auf Deutsch zeitliche Dimensionen ausdrücken kann. Übermorgen ist zu weit weg, da könnte er im Flugzeug nach Italien sitzen. »Heute, morgen, Ausländer, schlafen, Wasser, Ausweis, Asyl und Behörde« - das sind die Worte, die er in Berlin gelernt hat. Sie sagen viel über sein jetziges Leben aus.
Der Somalier lächelt trotzdem. Er ist ein positiv denkender Mensch. Auf dem Marsch, den er seit 15 Tagen begleitet, haben er und seine Mitstreiter viel Unterstützung erfahren: »Viele Leute haben uns für kurze Strecken begleitet und uns Essen und Getränke gebracht.« Er kennt die Geschichte Europas und weiß, dass es auch hier immer wieder Phasen gab, in denen Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben die Flucht ergriffen haben. Er wünscht sich, dass die Europäer sich daran erinnern und sich in die Lage heutiger Flüchtlinge hineinversetzen können.
In dem Stadtteil Brüssels, in dem die Flüchtlinge ihr Lager aufgeschlagen haben, versteht man sie gut. Die meisten Menschen hier haben einen Migrationshintergrund. So nehmen die Kinder aus den umliegenden Wohnblöcken, die auf der Grünfläche Fußball spielen, auch kaum Notiz von den vielen Menschen am Rand ihrer Spielwiese. Am Ende des europäischen Friedensmarsches herrscht ein friedlicher Einklang zwischen den Flüchtlingen und ihrer Umgebung. Hier, so scheint es, werden sie einfach als Menschen wahrgenommen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
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