Leidenserinnerungen und geschichtsmüde Jugend
18. Bundeskongress der Stasibeauftragten in Dresden verharrte aber nicht nur in der Retrospektive
Wenn sich einmal im Jahr die Stasi-Landesbeauftragten mit den Verfolgtenverbänden zum Bundeskongress treffen, erwartet man kaum mehr als die üblichen Rituale. Die »Master Narratives« werden bedient, also bis 1989 die Hölle, dann Eingang in den Vereinigungshimmel. Begleitet vom nahezu vollständigen Kritikfähigkeitsverlust der einstigen Dissidenten gegenüber aktuellen Zuständen.
Wer in der DDR gelitten hat, findet an solchen Tagen in der kollektiven Erinnerung an das Unrecht etwas Erleichterung. Und die Forschung kann glänzen, wenn sie in der Nische bislang unbekannte Übeltaten entdeckt, die im Namen des angestrebten Kommunismus begangen wurden.
Dass man sich am vergangenen Wochenende in Dresden nicht ausschließlich in der nochmaligen Negation des Überwundenen erschöpfte, ist vor allem zwei herausragenden Podiumsgästen aus Polen und Ungarn zu danken. Der Historiker Basil Kerski, Leiter des vor sieben Jahren gegründeten Europäischen Solidarnosc-Zentrums in Gdansk, schlug den Bogen in die Gegenwart. Und János Can Togay, Direktor des vom ungarischen Staat geförderten Collegium Hungaricum Berlin, lieferte mit einer Beschreibung der ungarischen Transformationsgesellschaft Erklärungen für den Rechtstrend in seinem Heimatland.
Unausgesprochen stand bei ihrem Podium im Sächsischen Landtag der alte Vorwurf im Raum, unsere mittel-osteuropäischen Nachbarn hätten mit den Eliten des Ancien Regime nicht gründlich genug aufgeräumt. Während Historiker Rainer Eckert vom Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig den Egon-Krenz-Terminus »Wende« strikt ablehnte und auf der »Friedlichen Revolution« beharrte, stellte Kerski für sein Land in Frage, ob es sich 1989 überhaupt um eine Revolution gehandelt habe. Eine solche hätten die regierenden Kaczynski-Brüder später von oben nachzuholen versucht, während es sich zuvor eher um evolutionäre Entwicklungen gehandelt habe. Die lange Vorbereitung durch die Solidarnosc-Gewerkschaft oder die widersprüchliche Rolle von Ex-Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski sprächen dafür.
»Es gibt eine uneinheitliche Erzählung zum Umbruch in Polen«, sagte Basil Kerski. Schon die Solidarnosc sei pluralistisch gewesen. Nach 1989 sei Polen erst recht in einzelne Milieus zerfallen, den Katholizismus eingeschlossen. Folglich plädierte Kerski für eine kritische Rückschau auf 89, »um damit die Köpfe und Herzen der jungen Leute zu öffnen«. Denn die seien »ermüdet von der Geschichtsträchtigkeit« und sehnten sich nach Normalität. Und hätten zudem bemerkt, dass die Ideale der 89er nicht mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität übereinstimmten.
János Togay bekräftigte Beobachtungen seines polnischen Kollegen. Auch die ungarische Gesellschaft sei inclusive der ehemaligen antikommunistischen Eliten tief gespalten. Die Menschenrechtler hätten sogar immer weniger Kredit, weil sie auf die freie Marktwirtschaft gesetzt hatten. 25 Jahre »Politokratie« hätten die gesellschaftliche Anteilnahme gelähmt. Und der doch wünschenswerte Westen habe eben auch die »kalten Schauer des Kapitals« gebracht, der keine Selbstverteidigungsorganisation gegenüberstand. Drei Millionen Ungarn lebten heute unter der Armutsgrenze.
»Wie viele Menschen erreichen wir wirklich?« fragte Rainer Eckert angesichts des dürftigen Geschichtswissens vieler Jugendlicher in die Runde. Die nahm sich im Plenarsaal des Sächsischen Landtages noch einseitiger aus als mancher Linksparteitag. Unter den Veteranen fanden sich aber doch drei Abiturienten, die den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit Recherchen zum ehemaligen Frauengefängnis Hoheneck gewonnen hatten. Dieses Kapitel »Fragen an die Vergangenheit« förderte etwas über unterdrückte renitente Sorben und medizinisch zwangsbehandelte Frauen zutage. Wer beim Kongress nicht zutage trat, war Bundesbehördenchef Roland Jahn. Es darf spekuliert werden, denn es kracht gewaltig um seine Person und die beabsichtigte Umgestaltung von Außenstellen.
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