Gesetze gegen die Ärmsten

Diego Castro über den verfehlten Umgang mit Obdachlosen in europäischen Ländern

  • Lesedauer: 3 Min.

Nach der Entmachtung des Verfassungsgerichts im März brachte die ungarische Regierung unlängst im zweiten Anlauf ein umstrittenes Gesetz durch. Obdachlosen verbietet es, im Freien zu übernachten. Die Ausweisung von Verbotszonen liegt im Ermessen der Gemeinden. Orte des ungarischen Weltkulturerbes sind kategorisch mit diesem Raumverbot belegt. In Budapest gibt es nur sechstausend Obdachlosenunterkünfte, aber circa zehntausend Menschen ohne festen Wohnsitz. Ihr Anblick stört den Tourismus und kratzt am Selbstbild der Regierung von Viktor Orban, die mit wirtschaftlichem Aufschwung punkten möchte.

Mit den Gesetzen steht Ungarn nicht allein. Viele europäische Städte kennen ähnliche Maßnahmen. Auch hier gelten Ortsverbote, falls eine Störung der Sicherheit oder Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht. Letzteres, so das deutsche Bundesverfassungsgericht schwammig, ist ein Verstoß gegen ungeschriebene Regeln und »herrschende soziale und ethische Anschauungen«.

Neben der Aushebelung der Verfassung sticht das ungarische Gesetz durch das harte Strafmaß hervor. Ohne Vorliegen einer Straftat werden Geldstrafen, Gefängnis oder Sozialstunden verhängt. Mit der gesetzlichen Verankerung sozialer Ausgrenzung bricht Ungarn ein europäisches Tabu. Von Obdachlosen Geld zu verlangen erscheint bizarr. Die Optionen Haft und Zwangsarbeit erinnern an die nationalsozialistische Verfolgung sogenannter Arbeitsscheuer. Doch wo sich in Europa nun Entrüstung regt, wird vielleicht mit zweierlei Maß gemessen.

Nicht nur in Ungarn werden die schwächsten Glieder der Gesellschaft schlecht behandelt. Die eklatanten Verstöße gegen die Menschenrechtscharta in osteuropäischen Autokratien mögen uns zum rechtsstaatlichen und moralischen Fingerzeig motivieren. Doch auch hier sind Ortsverbote für unerwünschte Personengruppen alltäglich. In der Ordnung des öffentlichen Raums sind sie subtil angelegt. Gentrifizierung, Verbote, Überwachung und Gestaltung des Stadtraums tragen täglich zur Diskriminierung der Ärmsten bei.

Schon mal darüber nachgedacht, warum es bei Stadtmöbeln immer mehr Schalensitze und statt Holz kalten Stein gibt? Stets gilt es, das Verweilen im öffentlichen Raum so unangenehm wie möglich zu gestalten. Die Mittel, Wohnungslose oder Jugendliche auch ohne Gesetze zu vertreiben, sind vielfältig. Selten als Maßnahmen erkennbar, entbehren sie oft der rechtsstaatlichen Grundlage.

In der Sozialpolitik hat die Idee, Arbeits- und Wohnungslose vergriffen sich am Gemeinwohl, unheilvolle Kontinuität. Davon zeugen bis heute klassistische Vorurteile und verbale Ausfälle von Politikern. Hier wird das Recht auf Sozialleistungen zum Recht auf Faulheit umgedeutet, Leistungsempfänger werden zu Parasiten und Verstöße gegen das Leistungsprinzip zu spätrömischer Dekadenz. Eine Meinungsmache, die sich der Kriminalisierung sozialer Not verschrieben hat. Scheinbar sollen so unsoziale Gesetze in gesellschaftlichem Ressentiment verankert werden. Politische Rhetorik, die Menschen in Leistungsträger und -bezieher einteilt, zeugt von voranschreitender »Brasilianisierung« Westeuropas. Damit beschreibt der Soziologe Ulrich Beck einen Prozess sozialer Segregation, die sich sozialräumlich niederschlägt. Sie kommt nicht von ungefähr. In einer Gesellschaft, in der die Arbeit schwindet, muss ein auf sozialer Ungleichheit beruhendes System Einiges unternehmen, um sich zu verankern. Der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer schreibt, dass die Ökonomisierung des Sozialen für die verstärkte Beurteilung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit verantwortlich zu machen sei. Eine Hierarchie der Herabwürdigung, an deren Ende Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder Migranten stehen, sei ursächlich für Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gewalt, Nötigung und Exklusion der Ärmsten sind europäischer Alltag.

In Ungarn wurde nur in Paragraphen gegossen, was bei uns lieber unter den Teppich gekehrt wird.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -