Kein Handlungsbedarf?

Deutschland weigert sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.
Weil Europa sich abschottet, endet für viele Schutzsuchende die Reise im offenen Meer. Deutschland soll mehr Flüchtlinge aufnehmen, um Mittelmeerstaaten zu entlasten, fordert nun EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.

Rund 200 Menschen sind beim jüngsten Flüchtlingsdrama vor der Küste Italiens ums Leben gekommen. Die genaue Zahl steht noch nicht fest, die Bergungsarbeiten im Rumpf des Schiffes liefen am Montagabend weiter. In Deutschland und der Europäischen Union hat das Unglück eine Debatte über den Umgang mit Geflüchteten ausgelöst. Zum einen werden vor allem in EU-Kommission und -Parlament Stimmen laut, Deutschland solle mehr Flüchtlinge aufnehmen, was die Bundesregierung am Montag bereits abgelehnt hat.

Zum anderen steht wieder einmal die Frage im Raum, ob die Länder an den Außengrenzen Europas mit der steigenden Zahl von Bootsflüchtlingen überfordert sind und mehr Unterstützung durch die anderen europäischen Staaten benötigen. Insbesondere Deutschland müsse mehr Schutzsuchende aufnehmen, forderten am Montag sowohl der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), als auch EU-Energie-Kommissar Günther Oettinger (CDU).

Schulz sagte, es sei eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen habe. Die Flüchtlinge müssten in Zukunft gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. »Das heißt auch, dass Deutschland zusätzliche Menschen aufnehmen muss.«

Oettinger mahnte seinerseits eine Überprüfung der europäischen Flüchtlingspolitik an. »Die Frage ist doch, ob Italien alleine in der Lage ist, diese Außengrenze kompetent, aber auch menschengerecht zu sichern und zu handeln oder ob es eines Mechanismus‘ für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union als Folge bedarf.«

Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte daraufhin am Montag in Berlin, Deutschland tue das, »was seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl in Europa entspricht«. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte seinerseits, »der Ruf nach einem gerechteren Verteilungsmechanismus« für Flüchtlinge in Europa lasse sich nicht zahlenmäßig begründen. Deutschland habe beispielsweise im vergangenen Jahr rund 65 000 Asylbewerber aufgenommen - Italien 15 000. Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wehrte sich gegen Kritik an der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik. »Wir alle sind tief erschüttert von den dramatischen Bildern aus Lampedusa. Der Vorwurf, dass sich Europa abschottet, ist jedoch falsch«, sagte er der »Welt am Sonntag«. Friedrich forderte, organisierte Schleuser stärker zu bekämpfen.

Bisher gibt es in der EU keinen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge - unter anderem aufgrund hartnäckiger Weigerung von Deutschland. Stattdessen gilt die sogenannte Drittstaatenregelung: Die Dublin-II-Verordnung legt fest, dass Schutzsuchende in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie als erstes betreten haben. Das sind in der Regel die Staaten an der Peripherie der EU. Mittelmeerstaaten wie Griechenland, Spanien, Italien und ganz besonders das kleine Malta sehen sich daher übermäßig betroffen. Mit der Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge sind sie zumeist überfordert.

Die EU gilt als Festung, die sich erfolgreich gegen die Einreise von Flüchtlingen abschottet. Nicht zuletzt deshalb hat sich das Mittelmeer zu einem Massengrab für Flüchtlinge entwickelt. Die genaue Zahl der Todesopfer ist schwer zu erfassen, die Internationale Organisation für Migration geht aber davon aus, dass in den vergangenen 20 Jahren 25 000 Flüchtlinge bei der Überfahrt starben. Schätzungsweise 2000 verloren 2011 ihr Leben, 1700 im vergangenen Jahr. Durch die politische Krise in Nordafrika und den Bürgerkrieg in Syrien versuchten in den vergangenen Jahren konstant viele Menschen nach Europa zu kommen.

Die EU-Innenminister haben die Flüchtlingspolitik nun kurzfristig auf die Agenda ihres Treffens heute in Luxemburg gesetzt. Darüber hinaus ist für diese Woche eine Abstimmung im Europaparlament zum neuen Grenzüberwachungssystem Eurosur vorgesehen. Es soll im Dezember einsatzbereit sein und Flüchtlingstragödien verhindern helfen. Mit dem System sollen EU-Staaten schneller und einfacher Informationen austauschen können.

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