Helfer in blauen Westen
Bei der Düsseldorfer Bahnhofsmission sammeln sich die Gestrandeten - und sie werden immer mehr
Sein Blick ist starr, er spricht nicht. Der breite, dunkelhäutige Mann wird von seiner zierlichen Begleiterin gestützt. Sie bittet um Hilfe und fragt, ob sich der Betrunkene vielleicht kurz auf der Krankenliege ausruhen könne. »Natürlich, ich bereite schnell alles vor«, sagt Max Giese. Der 27-Jährige ist Praktikant bei der Düsseldorfer Bahnhofsmission.
Giese, der als Helfer begann und kurzerhand seine Stelle in einer Spedition an den Nagel hing, arbeitet nun bei der Bahnhofsmission, während er auf einen Studienplatz für Soziale Arbeit wartet. An diesem Tag ist er zusammen mit zwei Kollegen im Einsatz, dem 20-jährigen Tobias Mayatepek, der ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, und dem 29-jährigen Jan Kockskämper, der bereits Soziale Arbeit studiert.
Während sich Giese um das Pärchen kümmert, unterhält sich Kockskämper mit einem Stammgast. »Wir nennen ihn Günni«, erzählt Giese. »Günni kommt eigentlich jeden Tag, setzt sich, dann dreht er eine Runde durch den Bahnhof.« Der Bahnhof, das ist Günnis Zuhause.
Günni, Ende 40, sitzt auf einem der schwarzen Holzstühle, die in dem großen rechteckigen Raum stehen, den die Deutsche Bahn der Bahnhofsmission zur Verfügung gestellt hat. Er befindet sich zwischen den Gleisaufgängen, direkt neben den Toiletten, mit weißen Wänden, Steinfliesen und kaltem Licht. An der Wand hängt ein Holzkreuz. Die Düsseldorfer Bahnhofsmission befindet sich in ökumenischer Trägerschaft der evangelischen und katholischen Kirche. Frische Blumen in kleinen Vasen auf den Tischen bringen etwas Heimeligkeit. Musik läuft, heute mal Jazz. Günni findet die Musik »zum Einschlafen«.
Dann klingelt das Telefon. Eine Frau bittet darum, dass man ihr beim Umsteigen hilft. Die Umsteigehilfe ist Tagesgeschäft für die Helfer der Bahnhofsmissionen. Seit über 100 Jahren gibt es in Deutschland Bahnhofsmissionen, die erste wurde 1894 in Berlin gegründet. Sie sind oft die erste Anlaufstelle für Hilfesuchende, nicht nur für Reisende. Und die Hilfesuchenden werden von Jahr zu Jahr mehr, sagt Virginia Berkle, stellvertretende Leiterin in Düsseldorf für den katholischen Träger IN VIA. »Wir erleben eine Welle von Armutsflüchtlingen. Zum großen Teil natürlich aus Bulgarien und Rumänien. Aber auch die Wirtschaftskrise in Südeuropa bekommen wir zu spüren«, sagt Berkle. Immer mehr junge Menschen etwa aus Spanien kämen auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland und strandeten auf Bahnhöfen. Oft ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen.
Tatsächlich haben bei den rund 100 Bahnhofsmissionen im vergangenen Jahr bundesweit rund 300 000 Menschen mit Migrationshintergrund nach Hilfe gesucht. Seit dem Jahr 2008 verzeichnen die Bahnhofsmissionen in ihrer Statistik für diese Gruppe einen Anstieg von über 70 Prozent. Auch die Düsseldorfer Einrichtung beobachtet diesen Anstieg. Noch 2010 half sie 2228 Menschen mit Migrationshintergrund, 2012 bereits 3433.
Die sozialen Probleme der Erweiterung der Europäischen Union und der daraus resultierenden Migration haben die Bahnhofsmission veranlasst, im Gebiet Rheinland-Westfalen-Lippe eine gesonderte Statistik zu führen, die Erkenntnisse über die tatsächliche Zunahme an Hilfen für Migranten liefern soll. Sie wird derzeit noch ausgewertet. »Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse«, sagt Berkle. Allerdings würden es sowieso Jahr für Jahr insgesamt mehr Menschen, die Hilfe suchen. »2010 hatten wir noch rund 17 000 Kontakte zu Besuchern, im letzten Jahr aber bereits weit über 22 000.«
Kockskämper und Giese müssen zum Gleis, um die Anruferin abzuholen. Dort stehen sie dann in ihren blauen Westen, halten einen Rollstuhl und warten darauf, dass die alte Dame aus dem Zugabteil humpelt und sich in den Rollstuhl fallen lässt. »Danke, meine Herren«, freut sie sich darüber, den Weg mit ihrem Koffer und dem Verband am Fuß nicht alleine machen zu müssen.
Am richtigen Gleis angekommen, drückt sie »den Herren« jeweils ein Geldstück in die Hand und verabschiedet sich. »So kleine Spenden bekommen wir oft«, sagt Giese. »Wir sind da als Einrichtung auch drauf angewiesen. Diese Dankbarkeit ist für uns zudem eine große Motivation.«
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