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Klagt! Legt Berufung ein!
In letzter Zeit wurden immer mehr Verfahren gegen Demonstranten eingestellt - wenn Berufung eingelegt wurde
Am 14. März 2009 fand in Münster ein sogenannter Lebensschützer-Marsch fundamentalistischer Christ_innen und Abtreibungsgegner_innen statt. Rund 160 kamen zu einer Demo in der Innenstadt. Gleichzeitig versammelten sich ca. 120 Menschen, die mit diesem Aufzug nicht einverstanden waren. Nach den üblichen Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden über 100 von ihnen, darunter auch eine Reihe Schüler_innen, von der Polizei gekesselt, ihre Personalien aufgenommen und knapp drei Stunden bis zur Beendigung des sogenannte Lebensschützermarsches festgehalten. Soweit, so normal.
Was sich dann allerdings in den nächsten vier Jahren abspielte, war nicht mehr ganz so normal. Ein paar Monate später flatterten den ersten Betroffenen Anhörungsbögen zu Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz gemäß § 21 ins Haus. Darin heißt es: »Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« (§ 21 VersG). Die Unverfrorenheit dieses Vorwurfs war wohl auch einigen Rechtsschützern nicht ganz geheuer, so dass es bei ein paar Jugendlichen zu Einstellungsangeboten gegen Geldauflagen oder auch zur bedingungslosen Einstellung kam. Aber erst jetzt, nach vier Jahren, scheint ein Durchbruch geschafft: Wurde zunächst 2012 eine Verurteilung durch das Landgericht Münster vom Oberlandesgericht Hamm zurückgewiesen, gab es jetzt sowohl erste Freisprüche in Berufungsverfahren vor dem Landgericht als auch bei noch ausstehenden Verfahren vor dem Amtsgericht, die nun selbst von der Staatsanwaltschaft gefordert wurden. Offensichtlich hat sich die verfolgungswütige Staatsanwaltschaft eines besseren belehren lassen und Selbsteinsicht in die Abstrusität ihrer Vorwürfe gehabt.
Doch daneben gab es dennoch eine Reihe von Verurteilungen, gegen die keine Berufung eingelegt wurde.
Das ist bedauerlich, wie die derzeitige Entwicklung mit immer mehr letztinstanzlichen Freisprüchen zeigt. Das Problem an der Sache: Viele Beteiligte waren sich wohl kaum klar über die persönlichen und politischen Konsequenzen ihrer Aktion. Für viele war es die erste Begegnung mit polizeilicher und staatlicher Repression, der sie so nicht gewachsen waren. Und hätte es nicht die Schwarz-Rote Hilfe Münster gegeben, wären wohl viele auch nicht unbeschadet aus dieser politischen Auseinandersetzung herausgekommen. In beharrlicher Kontinuität hat die Rechtshilfe- und Antirepressionsgruppe versucht, die Leute wenigstens nach der Aktion und den ersten Ermittlungsverfahren zu organisieren, was leider nicht immer gelungen ist.
Offenkundig waren sich nicht alle bewusst, dass die Anklage wegen § 21 Versammlungsgesetz natürlich hochbrisant ist. Über dieses Konstrukt sollen insgesamt das Versammlungsrecht und Formen zivilen Ungehorsams ausgehebelt werden, wie zum Beispiel ähnliche Anklagen im Zusammenhang der Anti-Nazi-Proteste in Dresden zeigen. Insofern sind die Freisprüche in Münster kein lokales Ereignis, sondern im Kontext der bundesdeutschen Auseinandersetzung um Versammlungsrecht und Demonstrationsfreiheit überhaupt ein erfreuliches Ereignis.
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