Gemeinsam hoch hinaus
Die Anne-Frank-Schule Bargteheide wurde als beste Schule Deutschlands 2013 ausgezeichnet
Als Angelika Knies, Direktorin der Anne-Frank-Schule im schleswig-holsteinischen Bargteheide, Anfang Juni aus den Händen der Kanzlerin den renommierten Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch- und der Heidehof-Stiftung entgegennahm, konnte die Nation im Fernsehen sehen, wie sehr sie sich freute, triumphierte. Sie streckte den Pokal in die Höhe, und über den Schirm flimmerten Bilder, wie man sie von der Fußball-Champions-League kennt.
Angemessene Bilder, findet Angelika Knies. Denn die Anne-Frank-Schule hat die Champions- League gewonnen. Nicht, weil die Ehrung mit 100 000 Euro dotiert ist, auch nicht, weil sich seitdem Journalisten die Klinke bei ihr in die Hand geben. Oder doch, wegen all dem auch ein bisschen. Denn mit der Anne-Frank-Schule hat sich eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe im Wettbewerb an die Spitze gesetzt, und jeder Journalist, der nun hier auftaucht, trägt eine Meinung darüber ins Land, ob es von Vor- oder Nachteil ist, wenn Kinder nach Vollendung der Grundschule weiterhin gemeinsam lernen, anstatt getrennte Wege zu gehen. In Deutschland streiten Eltern, Lehrer, Politiker und Bildungsforscher seit Jahrzehnten erbittert darüber.
Mit Angelika Knies lässt sich darüber nicht streiten. Für sie ist die Wahl ihrer Schule sowohl eine Anerkennung der Leistungen ihres Kollegiums, als auch ein politisches Statement, richtungweisend für die Schulentwicklung. Sie sagt: »Ich bin überzeugt, dass wir zu einem Schulsystem kommen, das lauter integrierte Schulen hat. Schule, die ausgrenzt, kann nicht gut sein.« Der Pokal, den ihr Angela Merkel überreichte, steht jetzt auf ihrem Schreibtisch. Eher eine kleine Skulptur: ein geflügelter Stuhl, der das Wettbewerbsmotto »Dem Lernen Flügel verleihen« symbolisiert. Angelika Knies hätte das Motto lieber so formuliert: »Wer gemeinsam lernt, kann es weit bringen.«
Wir möchten uns die Meinung bilden, die wir hernach ins Land tragen werden. Nun, unsere Meinung wird gebildet, auf sanfte, nicht unangenehme Weise. Die Anne-Frank-Schule (AFS), ein rotgeklinkertes Haus mit blauen Fenstern, liegt in einem gepflegten, grünen, campusartigen Areal, dem Bargteheider Schulzentrum, das neben einer weiteren Gemeinschaftsschule auch ein Gymnasium, eine Real- und eine Grundschule beherbergt. Lehrer und Schüler grüßen uns freundlich. Gleich mehrfach werden wir gefragt, wen wir suchen und ob man helfen könne. Höfliche, saubere junge Leute. Keine Nieten, Tattoos oder Piercings, nett gekleidete junge Mädchen mit wippenden Pferdeschwänzen.
Kein Wunder, wir sind nicht in Berlin! Bargteheide ist keine Me-tropole mit Problem- und Szenebezirken, sondern eine Kleinstadt im Hamburger Speckgürtel, überwiegend ländlich geprägt, Arbeitslosigkeit und Migration bis heute kaum nennenswert. Man muss das wissen, um zu verstehen, dass die heile Welt, auf die man hier trifft, nicht allein ein Produkt der AFS ist. Es erklärt auch, warum die Gemeinschaftsschule, obwohl sie es anfangs schwer hatte, hier schließlich doch die Chance bekam, sich zu einem Erfolg zu entwickeln. Im nahe gelegenen Hamburg, wir erinnern uns, siegte 2010 das Volksbegehren gegen sechs Jahre Grundschule, wogegen 2008 das Volksbegehren »Eine Schule für alle« scheiterte. Ist doch der Streit um Gemeinschaftsschulen nicht allein ein pädagogischer, sondern auch ein von Abstiegs- und Abgrenzungsängsten der Mittelschicht sozial geprägter.
Frau Knies hat uns Pia zur Seite gestellt. Pia ist 15, besucht gegenwärtig eine 9. Klasse, gehört der Schülervertretung an und will nach dem Abitur unbedingt Journalistin werden. Ihr Vater arbeitet als Zimmermann, die Mutter als Friseurin. Mit ihnen wohnt sie in einem kleinen Dorf und muss morgens und nachmittags je eine dreiviertel Stunde Schulweg auf dem Rad bewältigen, was sie aber gern in Kauf nimmt. Ihr hatte einst die Grundschule eine Gymnasialempfehlung gegeben, doch ihre Eltern, so erzählt sie, hätten ihr nicht »die Kindheit und die Jugend versauen« wollen, weshalb sie Pia auf der Gemeinschaftsschule anmeldeten. Pia schwärmt von ihrer Schule: »Hier gibt es so viele Möglichkeiten.«
Pia führt uns durch die Schule, an der derzeit 860 Schüler lernen und 70 Lehrer unterrichten. Für die 5. Klassen, berichtet sie, gäbe es jedes Jahr doppelt so viele Anwärter wie Plätze. Aufgenommen würden Schüler unabhängig von ihrer Grundschulempfehlung - ob die nun eine Hauptschule, eine Realschule oder das Gymnasium vorsähe. Man lerne von Anfang an gemeinsam, von der Klasse 5 bis 13. Jeder könne den Abschluss erreichen, der seinen Fähigkeiten entspricht, ohne Abschluss verlasse die Schule keiner. Und dies hat auch die Stifter des Deutschen Schulpreises beeindruckt: 60 Prozent der Schüler schaffen einen höheren Abschluss als den, den die Grundschulempfehlung ihnen zutraute. Diejenigen, die an der AFS mit einer Hauptschulempfehlung anfangen, meist Kinder aus bildungsferneren Familien, stellen zehn Prozent der Abiturienten.
Im Ganztagszentrum, einem Mehrzweckbau mit Fahrrad- und Töpferwerkstatt, Kursräumen und Mensa, unterrichtet Guido Surma »Gestalten«. Neben Französisch, Spanisch, Technik und Wirtschaft einer der Wahlpflichtkurse in der 7. Klassenstufe. Neigungsdifferenziertes Lernen heißt das, und beim Gestalten liegt der Schwerpunkt auf Theater und Medien. Vielleicht haben die Mädchen und Jungen, die sich für den Kurs entschieden, mit Blick auf den Arbeitsmarkt ja nicht die klügste Wahl getroffen. Aber Fantasie zu entwickeln, kann auch in anderen Fächern nützen. Und sie haben Spaß an dem, was sie tun.
Zurück im rotgeklinkerten Haus, lädt Pia uns ein, den Kurs »Forschen und Üben« des 6. Jahrgangs zu besuchen. Gabriela Campal, auch Deutsch-, Spanisch- und Französischlehrerin, steht den Schülern hier zur Verfügung. Einige haben sich um zu kleinen Inseln zusammengerückten Tischen versammelt, andere sich ins Computerkabinett zurückgezogen, um an ihren Projekten zu arbeiten. Die Themen haben sie selbst ausgesucht, zum Beispiel »Wie kommt das Bild in den Fernseher?« oder »Warum wechselt das Chamäleon die Farbe?«. Auch im »Forschen und Üben«-Kurs: begeisterte Schüler, die neugierig, offen und aktiv sind.
Letztes Angebot von Pia: Matheunterricht in der 5 I - jeder Jahrgang der AFS hat eine Integrationsklasse. Für die 5 I bedeutet das, dass hier fünf Schüler mit »Förderschwerpunkt Lernen« und einer mit »Schwerpunkt Motorik« integriert sind. Vor der Tafel steht Claus Schilke, Lehrer für Mathe, Musik und Technik, zudem Mitglied der Schulleitung. Die Schüler sollen herausfinden, wie viele Luftballons in den Raum passen, in dem sie sich gerade befinden. Wie kann man die Aufgabe lösen, welche Wege kann man gehen? Den Raum ausmessen und den Kopf von Linus, dessen Durchmesser (wie die der anderen Köpfe auch) in etwa dem eines Luftballons entsprechen könnte. Schritt für Schritt nähert man sich der Lösung. Melden sich die einen von sich aus, spricht Claus Schilke die anderen an. Er nennt das »die Balance halten zwischen kooperativem Lernen und Individualisieren«. Das Schöne: Alle machen mit, und wir finden nicht heraus, wer ein Förderschüler ist.
Mein für die Fotos verantwortlicher Kollege murrt. Er brauche Bilder, sagt er, die nach Schule aussehen. An der AFS wird er sie nicht finden. Seit 2004 gehört die Schule zum Arbeitskreis der reformpädagogisch engagierten Schulen »Blick über den Zaun«. Auch um die Reformpädagogik tobt bekanntlich ein Glaubenskrieg. Man kann sie nach guten und schlechten Konzepten betreiben. Doch darüber, welche gut oder schlecht sind, entscheiden Ergebnisse, nicht Meinungen.
Kaya, eine erwachsene Vierzehnjährige, zeichnet. Nachdem sie bejaht hat, dass sie hier gern zur Schule geht, und den ebenfalls sehr erwachsenen Satz anfügte: »Weil es das Sozialverhalten stärkt, wenn niemand benachteiligt wird«, entsteht in ihrem Skizzenbuch das Abbild jenes früheren Einfamilienhauses, in dem vor 23 Jahren alles anfing. Sie zeichnet, weil »Herr Nowottny damals dabei war, und wir ihm jetzt, wenn er in den Ruhestand geht, ein Bild des Hauses schenken möchten«.
Jürgen Nowottny, 64, war 1990 eines der sieben Gründungsmitglieder der AFS. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon 13 Jahre als Realschullehrer hinter sich und das Gefühl, sich weiter entwickeln zu müssen. Eine andere Art zu unterrichten schwebte ihm vor - kindgerechter, den Schülern zugewandter, auf den Einzelnen ausgerichtet. In jenem Einfamilienhaus, einem Anbau an die damalige Emil-Nolde-Schule, befanden sich die ersten Unterrichtsräume. Nowottny hat die Angriffe in den Leserbriefspalten der Zeitungen nicht vergessen, die der Gründung vorausgegangen waren, nicht, dass die ersten Schüler in den Schulbussen gemobbt wurden: »Wir waren die Schmuddelkinder.« Das, was aus der Schule geworden ist, macht Nowottny »glücklich«: Jedes Jahr seit 2008 werde die AFS als »Zukunftsschule Schleswig-Holstein« anerkannt, und man leiste UNESCO-Projektschul-Arbeit. Er spricht von »motivierten Kollegen, Teamarbeit, Kollegialität, engagierten Eltern«, an die er sich gern erinnern werde.
Auch Direktorin Angelika Knies, ehemals Gymnasiallehrerin, gehörte zu den Gründungsmitgliedern. Sie sagt, dass erst, als Björn Engholm (SPD) Uwe Barschel (CDU) als Ministerpräsident abgelöst hatte, die Gründung neuer Gesamtschulen in Schleswig-Holstein möglich geworden sei. Noch heute würden Vorurteile geschürt. »Lesen Sie mal die Leserkommentare, als Spiegel-online über unsere Auszeichnung berichtete.« Da ist von einem »Insider-Preis von reformpädagogisch bewegten Nicht-Pädagogen«, von »salonlinken Gleichschaltungsapologeten« und einem »ideologischen Irrweg« die Rede. Die Schwächeren bremsten die Stärkeren aus, und die Abschlüsse, obwohl zentral, seien weniger wert als die im dreigliedrigen System.
Ist das so? Wie viele Schüler, die mit einer Gymnasialempfehlung an die Anne-Frank-Schule kamen, haben das Abitur nicht geschafft? Angelika Knies lacht auf: »Einer. Er ist abgerutscht, hatte draußen Probleme.«
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