Die neue Lust am Gemeinsinn

Buch über Wohnprojekte in Baden-Württemberg

  • Britta Warda
  • Lesedauer: 3 Min.
Neue Wohnformen scheinen für viele Menschen zunehmend wichtig zu werden, die in fortgeschrittenem Alter wieder mehr Gemeinschaft wagen wollen. Die Soziologin Eva Wonneberger untersuchte diese Entwicklung an Beispielprojekten in Baden-Württemberg.

»Wenn du schnell ans Ziel kommen willst, geh allein. Wenn du weit kommen willst, geh in der Gruppe« - dieses alte afrikanische Sprichwort könnte als Motto für einen neuen Trend auf dem Wohnungsmarkt dienen. Seit einigen Jahren gibt es einen regelrechten Ansturm auf gemeinschaftliche Wohnprojekte, die bis vor kurzem noch ein Nischendasein führten und eher mit politischen Randgruppen - Stichwort Hamburger Hafenstraße - in Verbindung gebracht wurden.

Seit der Jahrtausendwende jedoch entwickelt sich der Trend zum Massenphänomen, an dem plötzlich alle gesellschaftlichen Schichten ein Interesse zeigen. Warum sich die Sehnsucht nach Gemeinsinn im Privaten, gerade in einer Zeit extremer Individualisierung und beruflicher Konkurrenz, so rasant entwickelt, untersucht die Soziologin Eva Wonneberger in ihrem Buch »Neue Wohnformen. Neue Lust am Gemeinsinn?«. Betrachtet werden dabei Projekte in Baden-Württemberg.

Der Wunsch nach sozialer Verbundenheit scheint dem Menschen in die Wiege gelegt zu sein. Der Zerfall von traditionellen Gemeinschaften und Familienverbänden lässt den Einzelnen nach neuen Wegen des Zusammenlebens suchen. Die Autorin hat zahlreiche Interviews mit Bewohnern geführt und deren Antworten analysiert. Angst vor gesellschaftlicher Isolation und Einsamkeit spielt häufig eine Rolle für den Entschluss, sich einem Projekt anzuschließen.

Ein weiterer, häufig genannter Grund ist die Skepsis gegenüber den politischen und ökonomischen Sicherungssystemen. Viele Menschen fürchten, sich im Alter mit einem geringen Lebensstandard und eingeschränkten Gesundheitsleistungen konfrontiert zu sehen. Frei nach dem Moto »Zusammen kann man sich mehr leisten« steuern sie dagegen.

Neben der soziologischen Einordnung stellt die Autorin existierende Wohnmodelle und Organisationsformen vor - von generationenübergreifenden Projekten, in denen Jung und Alt sich gegenseitig unterstützen, über reine Altenwohnanlagen im Sinne von »Grau ist bunt« bis hin zu grünen Ökosiedlungen, die hauptsächlich von jungen Familien initiiert werden. Für Interessierte besteht die Möglichkeit, als Mieter, Eigner oder Genossenschaftler in ein Projekt einzusteigen. Zudem lotet Wonneberger die Vor- und Nachteile verschiedener Rechtsformen aus.

Dass gemeinschaftliches Wohnen nicht immer konfliktfrei abläuft, liegt auf der Hand. Gerade Menschen, die lange allein gelebt haben, müssen die Nähe zum Anderen erst neu erlernen. Das Thema »Gemeinschaft versus Privatheit« sollte deshalb im Entstehungsprozess eines Projekts sehr genau abgewogen werden. Trotz aller Anstrengungen gelingt nicht jedem der Spagat. Manch einer ist enttäuscht, dass am Ende die Chemie zwischen den Bewohnern doch nicht stimmt. »Mein Herz ist nicht mehr dabei. Ich sitze oft in meiner Wohnung und heule«, wird eine enttäuschte Bewohnerin einer Altenwohnanlage in Lindau am Bodensee zitiert. Nach nur einem Jahr gab es in ihrer Gruppe akute Interessengegensätze.

Eva Wonneberger hat Projekte im Bundesland Baden-Württemberg untersucht, die Ergebnisse lassen sich jedoch auf die gesamte Bundesrepublik übertragen. Unterm Strich ist eine hilfreiche Lektüre für alle Menschen entstanden, die eine ernsthafte Wohnalternative zu Mietskaserne oder Reihenhaus suchen.

Eva Wonneberger: Neue Wohnformen. Neue Lust am Gemeinsinn?, Centaurus Verlag, Freiburg, 19,80 Euro

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.