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Gesichter der Kindheit
Wilhelm Bartsch führt in die sechziger Jahre nach Eberswalde, und ein Mörder ist auch dabei
Dieser Roman von Wilhelm Bartsch ist in seinen Orts- und Zeitangaben so hartnäckig wirklichkeitsbesessen wie unerschrocken anschaulich bei den Liebesspielen seines Personals, dass man genau zu wissen meint, womit man es zu tun hat.
Dies ist die DDR am Ende der sechziger Jahre, der Ort das brandenburgische Provinzstädtchen Eberswalde mit seinem überdimensionalen Kranbaubetrieb und der spektakuläre Kriminalfall, der die Handlung begleitet, der Fall des jugendlichen Sexualstraftäters Erwin Hagedorn. Der schnitt im Mai 1965 bei Eberswalde zwei neunjährigen Jungen die Kehle durch und wurde im September 1972 in Leipzig hingerichtet. Alles zutreffend und doch noch anders. »Alle hier handelnden Figuren sind Kunst«, sagt Bartsch. So ist es auch mit der Landschaft des Romans.
Ja, sein pubertärer Held Franz Flurschütz ist Kumpel und Spielkamerad des Erwin Hagedorn, wie es der in Eberswalde geborene Wilhelm Bartsch selber war. Aber das ist noch nicht der Roman und Bartsch kein Autor, bei dem es gerade dazu reicht, eine fiktive Rahmenhandlung um einen alten Fall marktkonform zu bauen. Der Kindermörder Hagedorn gehört einfach zum Milieu der Geschichte und die handelt davon, wie ein Heranwachsender seine provinzielle Umwelt in der DDR als eng und bedrückend erlebt. Wie er mit seinen Frustrationen allein bleibt und sich herauszukatapultieren sucht. Wie trostlos »Provinz« sein kann.
Flurschütz ist Oberschüler und Auszubildender in der Landwirtschaft, er stromert herum, rebelliert gegen Schule und Familie, baut sich eine Gegenwelt aus einer Sammlung bunter Groschenheftchen aus dem »Westen« auf, für die er bald zu einer Adresse in Eberswalde wird. Unbeschadet dessen macht er Gedichte, schwärmt für die Beatles und jagt wild dem Unbekannten hinterher. Es hat die Gestalt der Frauen, die hier Mädchen sind. Karin ist Schaffnerin und außer in Sex auch noch in Bücher verliebt. Moni vierzehn und in ihrer Unerreichbarkeit die eigentliche weibliche Herausforderung von Flurschütz.
Der lebt seine erotischen Fantasien auch in der Sprache des Romans reichlich aus, allerdings scheint er mehr noch zu suchen: »Liebe«. Beinahe überall aber erlebt er Beziehungslosigkeit, eine Mutter ohne Empathie, einen groben Liebhaber der Frau, die Trostlosigkeit des Städtchens, den Fremdkörper der sowjetischen Truppen, die gerade benutzt wurden, einen letzten Funken sozialistischer Hoffnung im Prag 1968 auszutreten.
Nur der Großvater gibt Flurschütz ein wenig Halt. Man versteht, das kann zu einer mörderischen Kindheit werden. Jahrzehnte später besichtigt der Erzähler die Szene. Keiner der Erinnerungsorte ist unbeschädigt oder nicht gar verschwunden. »So sieht das bischen Zeug zur Ewigkeit aus«, heißt das melancholische Fazit. Es ist ein großer Roman über die vielen Gesichter der Kindheit.
Wilhelm Bartsch: Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Osburg Verlag. 327 S., geb., 19,95 €.
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