Aus Völkern wurden Kriegsvölker wurden Völker

Gerd Fessers Kompendium zu 1813 - rechtzeitig zum 200. Jahrestag der Leipziger Schlacht

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Ungern erinnert man sich daran, dass vor vier Jahren der 250. Geburtstag des deutschen Nationaldichters Friedrich Schiller im öffentlichen Bewusstsein total verschwand - hinter dem Jubel, der dem 20. Jahrestag der Herbstrevolution von 1989 galt. Angesichts der für dieses Jahr abzusehenden Konzentration der Gedenkkultur auf Jahrestage, die mit dem NS-Regime verknüpft sind, ist Skepsis angebracht, ob nicht darüber ein 200. Jahrestag in den Schatten treten wird. Ein Jubiläum, das nicht weniger als die Ereignisse von 1933 und 1938 danach lechzt, von der Geschichtsschreibung und Geschichtsvermittlung als Gelegenheit genutzt zu werden, um tradierte Geschichtsbilder einerseits in Erinnerung zu rufen, andererseits auch zu hinterfragen. Dazu bedarf es jedoch erst einmal eines Kompendiums, das die Fakten des Jahres 1813 liefert.

Das liegt nun mit der jüngsten Arbeit des emeritierten Jenenser Historikers Gerd Fesser vor. Der Autor verfolgt die Geschehnisse des Jahres 1813 in ihren europäischen Verflechtungen. Es führt sie folgerichtig zur Entscheidungsschlacht im Oktober in Leipzig, die der napoleonischen Vorherrschaft in Mitteleuropa ein Ende setzte. Nur in dieser Hinsicht handelte es sich um einen Krieg, der das Epitheton »Befreiung« verdient. Tatsächlich traten die deutschen Stämme durch das Fazit der auf ihrem Boden ablaufenden militärischen Gefechte zwischen April und Oktober 1813 aus dem Schatten Napoleons heraus. Am Ende stand die Abschüttelung einer Fremdbestimmung.

Fesser arbeitet knapp, aber präzise heraus, was Napoleons Einfall in deutsche Territorialstaaten für diese bedeutete. Einerseits führte dieser zu einem Aderlass an Gut und Blut, andererseits aber bewirkte er einen Modernisierungsschub. Der Hauptteil des Buches des Thüringers widmet sich Preußen, dem Ringen hiesiger Patrioten um ein Bündnis mit Russland gegen Napoleon, der Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte, den Verdiensten preußischer Strategen und den Leistungen der Soldaten. Der von borussischen Historikern geschaffene - und noch heute nachgebetete - Topos »Deutscher Befreiungskrieg« wird kritisch beleuchtet. Als Ziel des Krieges hatten die in Tauroggen zueinander gefundenen Kriegspartner die Beseitigung der napoleonischen Schöpfung »Großherzogtum Warschau« und die Wiederherstellung Preußens als Großmacht erklärt. Die Vertreibung Napoleons aus allen deutschen Landen war daraus keineswegs herauszulesen.

Fessers nüchterne Chronologie berichtet von einer russisch-preußischen Koalition, die im Kampf gegen Napoleon und dessen deutsches Protektorat »Rheinbund« höchst eigennützige Interessen verfolgte. Aufgezeigt wird, dass die in späterer Geschichtsschreibung absichtvoll summarisch »Franzosen« genannten napoleonischen Streitkräfte mehrheitlich aus Italienern, Polen und Spaniern, aus Badensern, Württembergern, Würzburgern, Westfalen und Sachsen bestanden. Risse innerhalb der Napoleontreuen Rheinbund-Front taten sich erst auf, als Österreich im August 1813 der russisch-preußischen Koalition beigetreten war und sich das Kräfteverhältnis damit zu deren Gunsten verschob. Der auf Gneisenau zurückgehende Operationsplan der Koalition brachte Mitte Oktober 1813 die Konzentration der Truppen beider Seiten vor den Toren Leipzigs, wo in viertägigem, äußerst blutigem Ringen - von Fesser detailliert nachgezeichnet - Napoleon entscheidend geschlagen und zum Rückzug gezwungen wurde. Angesichts der bereits absehbaren Niederlage wechselten am dritten Tag der Schlacht etwa 5000 Mann sächsischer und württembergischer Truppen die Seiten. Nachdem Napoleons dezimierte Grande Armée über den Rhein geflüchtet war, entschlossen sich nun auch die Rheinbund-Fürsten zum Bündniswechsel. Doch erst, als es im Folgejahr 1814 darum ging, Napoleon in Frankreich selbst niederzuringen, konnte man berechtigt von einem »Deutschen Krieg« sprechen. Um die Befreiung Deutschlands von Napoleon ging es dabei allerdings nicht mehr.

Ein wesentlicher Aspekt wird von Fesser nur an versteckter Stelle angesprochen. In dem für die Orientierung des Lesers höchst verdienstvollen Anhang »Kleines Lexikon der Befreiungskriege« klärt er auf, dass der heute gültige Begriff »Völkerschlacht« 1813 im Sinne des Zusammentreffens von »Kriegsvölkern«, will heißen: gewaltigen Armeen, gebraucht wurde. Erst später, im Einklang mit der Entstehung einer breiten Nationalbewegung, kam die Interpretation als »Schlacht der Völker« um die Brechung des napoleonischen Jochs auf und wurde Allgemeingut. Dies passte nach 1871 auch gut in das Geschichtsbild des von Bismarck geeinten Deutschland. Der Krieg von 1813 wurde zu einem deutsch-nationalen Aufbruch stilisiert, der nach Bedarf von den Geschichtsschreibern zudem unter die Führung des mit einer nationalen Mission begnadeten Preußen gestellt wurde.

Gerd Fesser: 1813. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Verlag Bussert & Stadeler, Jena/Quedlinburg 2013. 169 S., geb., 19,80 €.

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