Das lange Sterben der Mutter im Gas

Florjan Lipuš erzählt eine erschütternde Liebesgeschichte

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Ginge es nach Peter Handke, dann stünde ein Dichter seiner Heimat in der Gunst der Leser weit oben: der Erzähler Florjan Lipuš, Jahrgang 1937. Handke und Lipuš sind Kärntner Slowenen, Teil einer diskriminierten Minderheit. Was sie unterscheidet: Lipuš - Lehrer von 1966 bis 1999 - lebt auf dem Land, und er schreibt nur Slowenisch; sein Werk entstand auf der Schattenseite des Literaturbetriebs. Aber was für ein Werk! Mit eigenem Kosmos und einer unnachahmlichen Sprache, einer Sprache, die noch die Schrecken der Biografie lyrisch umfängt.

Lipuš' Prosawerke sind Stücke aus Schmerz und Verzweiflung, aus Melancholie und bösem Humor. Sie sind poetisch und metaphorisch, eigenwillig in den Bildern, im Tonfall, in der Grammatik. Der Autor beschaut Dinge und Ereignisse, als lägen sie unterm Mikroskop. Die Zeit bleibt stehen, die Dinge reden.

Peter Handke hat 1980 ein Buch von Lipuš übersetzt, zufällig-absichtsvoll, der Akt sollte bei ihm, Handke, den verschütteten Schatz der Muttersprache wieder freilegen. Das Buch heißt »Der Zögling Tjaž«, und seit der Übersetzungstat wird Handke nicht müde, die Kraft des Kollegen zu loben, die »Mischung aus Noblesse und Frechheit«. Diesen Roman preist Handke besonders: »Boštjans Flug«. Das slowenische Original erschien 2003, 2005 auch eine deutsche Fassung (bei Wieser in Klagenfurt), nun gibt es eine Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp.

»Boštjans Flug« beginnt märchenhaft. Wir begleiten einen Jungen an einem Morgen durch ein Kärntner Tal. Im Fichtenwald trifft er auf Lina, ein Mädchen seines Dorfs, das er schon lange begehrt. Sie gehen ein Stück miteinander, und siehe: Sie finden zueinander. »Boštjan hat sich mit Lina angesteckt«, lesen wir, er glaubt zu fliegen. Mit leisem Pathos, ohne Kitsch erzählt Florjan Lipuš vom Glück der ersten Liebe; er erzählt so, dass der Leser diese Liebe zu erleben glaubt. Auf ihrem Weg bergwärts passieren die jungen Leute eine Hütte, versperrt, »die Fenster mit Brettern verschlagen« - Boštjans Elternhaus. Die zwei erkunden die Hütte, erkunden die Biografie der Familie, auch die verschlossenen Kammern, und das Märchen wird plötzlich zur Schreckensgeschichte. Wir erfahren: Boštjan hat einst durchlitten, was auch Lipuš erlebt und durchlitten hat. Die Enge des Dorfs. Die gewalttätige Allmacht der Kirche. Den Druck der Deutschkärntner Mehrheit. Und den Horror der Nazi-Zeit.

Eine Zeitreise zurück in die Vierziger: Boštjans Vater ist Soldat der Wehrmacht im Weltkrieg, andere Slowenen ziehen als Partisanen durchs Gebirge. Eines Tages kommen Gendarmen auf den Hof von Boštjans Eltern, in diese Hütte im Wald. Die Mutter solle mitkommen, »nur kurz auf den Posten«, zu einer Befragung. »Ich glaube, das waren ihre letzten Worte«, erzählt Lipuš im Interview, »ich muss mit den Herren runter in die Stadt, aber ich komme bald zurück. Hat die Schürze abgemacht und ist mit.« Der Junge, Boštjan oder Florjan, sieht sie nie wieder.

Die Mutter des Dichters Florjan Lipuš wird deportiert, sie stirbt in Ravensbrück. Lipuš im Interview: »Ob sie vergast worden ist oder ob sie da ..., also, woran sie gestorben ist, weiß ich nicht. Ich hab das verdrängt.« Boštjan ahnt damals nichts von Ravensbrück, doch er erahnt den Tod der Mutter, in einer schaurig poetischen Szene.

Irgendwann - der Junge ist unterwegs zum Vater im Wald - kommt es plötzlich über ihn. Boštjan weiß, »dass gerade jetzt, während er auf der Straße dahingeht, die Mutter ins Gas geschickt wird«. Wir lesen: »Lange dauerte ihr Sterben«. Und wir ahnen: Bis heute hat der Sohn diesen Tod nicht verwunden.

»Boštjans Flug« könnte ein trauriges Buch sein, es ist ein lebensfrohes Buch. Weil ein Junge sein Mädchen getroffen hat. Was macht es, dass dort unten »das sorgensüchtige Dorf« liegt, dass alle Wege erfüllt sind »von stöhnender Einsamkeit«. Boštjan hat Lina. »Sie gingen zu zweit ins Helle, in den Tag, der sich für sie breit machte.«

»Boštjans Flug«, das ist eine Folge von Szenen, sprachlich stark verdichtet. Der Autor spannt große Bögen, er springt vor und zurück, alles ist Gegenwart, wie in Boštjans Erinnerung. Was für ein Text, erschütternd und elegisch, so schmerzhaft kreisend, so bitter und licht. Peter Handke hat ein beseeltes Nachwort geschrieben, er rühmt die Geschichte als »das erste Buch der Liebe seit (fast) unvordenklichen Zeiten«, und schon an anderer Stelle gab er ihr das Etikett, das sie verdient: »Weltliteratur«. Florjan Lipus: Boštjans Flug. Aus dem Slowenischen von Johann Strutz. Mit einem Nachwort von Peter Handke. Suhrkamp. 167 S., geb., 19,95 €.

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