Seufzen überm kalten Grund

Deutsches Theater Berlin: »Das Himbeerreich« - geschrieben und inszeniert von Andres Veiel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir leben in diesem Reich? Es ist »Das Himbeerreich«. Gudrun Ensslin wählte diese Metapher einst für die Bundesrepublik. Der versüßte Dreck des Überflusses. Die Himbeere, keine Frucht des Zorns, eher Schnupperperle aus dem Schlaraffenland. Vorbei längst. Die rosige Farbe der Beeren wich der Blässe der vielen Enttäuschten, Entsorgten.

Aber nicht sie kommen hier zur Sprache, sondern jene an Schalthebeln des beschleunigt gefräßigen Finanzmarktes: Investmentbanker. Nach seiner Uraufführung in Stuttgart kam »Das Himbeerreich«, geschrieben und inszeniert von Andes Veiel, nun ans Deutsche Theater Berlin (Bühne: Julia Kaschlinski). Manager und Ex-Manager in einer merkwürdig leeren Hochhausetage. Metallische Wände, zwei Fahrstühle. Es wird sich herausstellen: ein Unort, eine Kaltfläche der Selektion.

Hier reden sie. Neunzig Minuten lang. Karriere. Konzepte. Krise. Kollegen. Das Kapital. Ein Leben, ganz Blut und Börse. Ausbünde an Machern, Übervorteilte und Überforderte, Übergeordnete und doch Übersichtslose. Sie offenbaren, wie man was durchzieht und durchrechnet, wie man durchgreift. Wie man irgendwann selber nur noch durchgereicht wird, nach unten, nach draußen.

Sie stehen verteilt im Raum, wie müde oder weidwunde Raubtiere, also irgendwie auch arme Würstchen. Was denn, Banker, Verderber als arme Würstchen? Ja, was denn sonst? War Macbeth nicht auch eins, Richard III.? Ein wenig stehen sie da, als warteten sie auf Shakespeare. Aber sie haben wenigstens erst mal Andres Veiel. Sie haben das Wort, das protokollarisch ist, aber auch auf Lebensdurchdringung zielt, und da wird es kalt im Raum, es ist die Kälte der Gegenwart: diese Gehetztheit der bestimmenden Kräfte; diese fieberhafte Kläglichkeit, mit der Intelligenz sich müht, Effizienz zu beweisen; diese Militanz der Selbstleugnung beim Funktionieren; diese grausame Unberührtheit, ganze Populationen für Bestbilanzen aufs existenzielle Spiel zu setzen.

Wann gehört ein Banker in die Kunst? Wenn sogar über dem kalten Grund der nackten Zahlung ein Schluchzen hörbar wird, »wie ein Engelsseufzen über den Höllengründen oder ein leiser warmer Menschenton über dem Eis der schweigenden Gipfel« (Ezra Pound). Assoziations-Abschweife: Vor Jahren wurde dem 84-jährigen Bankier Ludwig Poullain in Hannover eine Feierrede zum Thema »Bank und Ethos« bei der NordLB verweigert. Er hatte nämlich vor, tatsächlich zum Thema zu reden. Die geplante Rede fing hoch an: Immanuel Kant. »Man darf sich bei Vergehungen gegen die Redlichkeit niemals auf die Schwäche der menschlichen Natur berufen; denn in der Redlichkeit kann man vollkommen sein.« Redlichkeit im Bank-Geschäft? Ja, kein wirtschaftliches Handeln ohne moralischen Selbstauftrag. Als Gewinnmaximierung habe, so Poullain, die Maxime der Redlichkeit zynischerweise auch Eingang in die Bankersprache gefunden, aber: »Den Gehalt des Wortes total zu verkehren und dann zum Maß aller Dinge zu machen, kann nicht nur Gedankenlosigkeit sein. Dies ist Ausdruck der Gesinnung. Gewinnmaximierung zum Hauptziel des Geschäfts zu erklären, bedeutet die Verletzung der ethischen Pflichten im Bankwesen.«

Doch warum, wollte der Redner fragen, sollte eine Bank »der Profitgier Grenzen ziehen, wenn das Motto ›Bereichert euch!‹ ohne moralische Hemmungen öffentlich gepredigt werden kann«? Warum moralisch sein, so lange die Unmoral nicht mit dem Gesetz kollidiert? Poullain fragte die Wirtschaft, was geschehen sei, dass aus dem »Gott schütze das ehrbare Handwerk« eine andere Bitte wurde: »Gott schütze uns davor.« Diese ungehaltene Rede damals war ein Hinweis auf die Utopie: dass eine Änderung der Verhältnisse aus einem anderen Geist der Elite kommen könnte. Welch ein Schluss-Satz eines Bankiers an seinesgleichen, der aller Anfang wäre und deshalb so traumverloren blieb: »Öffnet eure Gesichter.«

Die hier, auf der Bühne, öffnen ihre Gesichter, bleiben mitunter maskenhaft, versinken in sich, wüten sich frei, brüllen sich einen Schutzpanzer herbei, erstarren in der Erkenntnis, werden agil im Verdrängen (Susanne-Marie Wrage, Joachim Bißmeier, Manfred Andrae, Sebastian Kowski). Ulrich Matthes hat den fragendsten, den bohrendsten, verdichtetsten Text, er ist Vermittler zwischen Anteilnahme und (Selbst-)Anklage. Jürgen Huth spielt einen Kraftfahrer: der Banker-Butler, der komödiantische Knecht mit weißen Handschuhen, dem im trüb-wieseligen Gehorsam ein Quäntchen Klassenpfiffigkeit eingewurzelt bleibt - wie sie Brechts Matti gegen Herrn Puntila offenbarte.

Es schwirrt im Chor der Stimmen: wieder mal Karl Marx lesen, denn sie ist doch genial wahr, diese Offenlegung des kapitalistischen Betriebsgeheimnisses im »Kommunistischen Manifest«; und Gier, warum immer so ängstlich, wenn sie zutage tritt - Gier ist doch auch Neugier, ist Kern jedes natürlichen Begehrens; was denn, zu viel Kapitalismus?, nein, noch mehr Kapitalismus wagen!, er rettet die Welt, deren Dynamik nicht umzukehren ist; und irgendwo werden doch schon die Scheine der neuen Währung gedruckt, keiner weiß, wie sie heißt, aber deren Kurse treiben garantiert Millionen Menschen ins noch größere Elend.

Rechtfertigungsfetzen, Verzweiflungsstammeln, Aufschreiansätze. Einmal tritt Matthes' Banker vor, fragt scharf, warum das alles keinen wütend mache, warum Occupy-Zelte im Museum landeten - Matthes schickt seinen peitschenden Worten den spitzesten Dolch nach, den Blicke formen können, der Dolch schneidet ins Gemüt, im Publikum regt sich ein einsamer Applaus. Aber tiefste Stille jetzt, ja: Totenstille unter den Lebenden, das ist schon viel.

Das ist gutes, traditionelles Dokumentartheater. Wenn es Veiel nicht gelang, aus Gesprächsprotokollen mit Bankern einen Dokumentarfilm zu drehen, weil Namen und Adressen hätten genannt werden müssen - dann ist es doch eine Hymne auf die Lebendigkeit des Theaters, wenn dieses einspringt und in fiktiver Form eine Präsentation des Bedrängungsstoffes ermöglicht. Das Bedrängende am Stück ist das unsichtbare, aber grauenhafte Grinsen des Systems, das noch seine bestverdienenden Sklaven als Blinde offenbart, denen es an nichts fehlt, aber an Durchblick sehr wohl. Sprachrohre einer ihnen fremden Botschaft, Sprachröhrende einer Lehre, die ihnen in Haut und Herz eingeschrieben ist, als seien sie an die Foltermaschine in Kafkas »Strafkolonie« gefesselt.

Was (politisch unkorrekt) keimt, ist: Verstehen. Nicht der Lage, sondern ihrer Verwirrtheit. Offenbar gibt es trotz aller Hierarchiekonflikte ein Ausgeliefertsein, das kein Oben und Unten mehr kennt. Eine verfluchenswerte Unteilbarkeit der Welt existiert, die noch den kleinsten westlichen Lebensgenuss auf jenen großen Schuldschein schreibt, den zu lesen und auszuwerten eines kommenden Tages Millionen Afrikaner zornig und unaufhaltsam ihren Analphabetismus besiegen.

Die bekannten Analyse-Sätze hängen gestanzt im Geschichtsmuseum, wahre (!) Sätze von Klassenverhältnissen, Klassenkämpfen, sozialen Feindschaften, Sätze von Ausbeutung, Profit, Revolution. Na und? Trotzdem sieht niemand durch. Der Feind wurde Struktur, deren Teil man selber ist. Don Quichote hatte wenigstens noch Windmühlen - heute machen Wenige Empörungswind, der große Rest steckt in der Erschöpfungsmühle. Die bodenlose Unlust an Mitwelt und Gesellschaft ist das letztverbliebene Verhaltensradikal? Was früher Politik hieß, ist jetzt Depressionsbewirtschaftung.

Nichts mehr mit Heiner Müller: »Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand«? Den einen reicht's, die anderen sind reich. Aber was wird inzwischen nicht alles hingenommen für ein paar Himbeeren.

Nächste Vorstellungen: 20., 23.1.

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